Alan Rickman:"Ein Schauspielerleben steckt voller letzter Tage"

Zu Lebzeiten sprach Alan Rickman nicht gern über politische Ansichten, sein Privatleben oder seine Rolle in "Harry Potter". 2011 gab der Schauspieler der SZ eines seiner wenigen Interviews.

Interview von Tanja Rest

Dieses Interview wurde 2011 zum Erscheinen des letzten "Harry Potter"-Filmes mit Alan Rickman geführt. Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir es erneut.

Harry Potter And The Deathly Hallows - Part 2 - World Film Premiere

Befasste sich eine Zeit lang auch mit Shakespeare-Dramen: Alan Rickman, hier bei der Weltpremiere des letzten Teils der Potter-Saga 2011 in London.

(Foto: Getty Images)

London, Mandarin Oriental. Die PR-Leute kriegen sich gar nicht mehr ein, dass dieser Interviewtag tatsächlich stattfindet. Zehn Jahre "Harry Potter" und kein einziges Interview von ihm. Bis jetzt! Auf dem Weg zu seiner Suite geht man noch einmal die Themen durch, über die er nicht gerne spricht: politische Ansichten, sein Privatleben, seine alten Filme, seine Schurkenrollen, seine Rolle in "Harry Potter". Was bleibt? Dieses.

SZ: Mister Rickman, auf YouTube kann man sich anhören, wie Sie Shakespeares Sonett Nr. 130 lesen. Erinnern Sie sich an die Aufnahme?

Alan Rickman: Ich glaube, es ist auf einer CD. "My mistress' eyes are nothing like the sun ..."

SZ: Bescheidener, als Sie es getan haben, kann ein Schauspieler diese Zeilen wahrscheinlich nicht sprechen.

Rickman: Hmmm. Danke. Ich erinnere mich an eine Produktion des "Sommernachtstraums" in Stratford, vor vielen Jahren. Regie führte Peter Brook. Nach einer Vorstellung sagte er zu uns: "Ihr müsst eines wissen: Ihr werdet niemals so gut sein wie der Autor." Das habe ich beherzigt. Es gilt ganz besonders für die Sonette. Sie sind wie Gefäße, die einen Gedanken bergen, und diesen Gedanken muss man im Kopf behalten. Man darf ein Shakespeare-Sonett nicht rezitieren. Man muss es sprechen. Was Sie auf YouTube gehört haben, war also nicht "Der großartige Alan Rickman liest Shakespeare". Sondern einfach - Shakespeare.

SZ: Der Kommentar einer Userin lautete, von Ihrer Stimme bekomme sie einen "Ohrgasmus".

Rickman: Nun weiß ich wieder, warum ich YouTube nicht nutze. Als ich auf der Schauspielschule war, sagte ein Lehrer, meine Stimme komme aus einem Abflussrohr. Dem unteren Ende.

SZ: Sind Sie sicher? Britische Wissenschaftler haben vor Jahren eine mathematische Formel entwickelt, um die perfekte Stimme zu beschreiben. Dem Ideal am nächsten kamen die Stimme von Jeremy Irons - und Ihre.

Rickman: Ich entsinne mich, davon gehört zu haben, begreife aber nicht, was das bedeuten soll. Meine Stimme war und bleibt ein Problem, besonders im Theater. Sie ist sehr leise und sitzt an einem schwierigen Platz, mitunter hört man sie nur sehr schlecht. Es gibt da wohl irgendeinen funktionalen Defekt. Was die Stimme angeht, bin ich beim Film eindeutig besser aufgehoben als im Theater.

SZ: Innerhalb von zehn Jahren sieht man Sie nun zum achten Mal in der Rolle des Zauberei-Lehrers Snape, der zwielichtigsten und interessantesten Figur im Harry-Potter-Kosmos. Sie haben sich stets geweigert, über Snape zu sprechen. Warum?

Rickman: Ich fand immer, er ist eines dieser Elemente in einer gewaltigen und komplizierten Geschichte, die nicht erklärt werden sollten. Es ist sehr wichtig für die Vorstellungskraft von Kindern, dass man ihnen da nicht hineinpfuscht. Darum habe ich den Mund gehalten. Und sogar jetzt möchte ich eigentlich nicht darüber reden, was mit Snape am Ende passiert. Es gibt ja immer noch ein paar Kinder, die sich die Ohren zuhalten und es auf keinen Fall wissen wollen.

SZ: Am Set sollen Sie der Einzige gewesen sein, der Snapes Geheimnis von Anfang an kannte.

Rickman: Das ist nicht ganz richtig. Ich besaß ein kleines Stück Information, das Jo Rowling mir gegeben hat. Klein, aber entscheidend. Und glauben Sie mir: Es war nicht das Ende der Geschichte. Ich hatte sie lediglich darum gebeten, mir irgendetwas über Snape ins Ohr zu flüstern - damit ich wusste, welchen Weg er nehmen würde. Um es beim Spielen im Kopf zu behalten.

Jemand musste es tun

SZ: Und natürlich verraten Sie hier nicht, um welche Information es sich handelte.

Rickman: Natürlich nicht.

SZ: Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie Ihre letzte Snape-Szene gedreht haben?

Rickman: Allerdings. Das war in der Großen Halle von Hogwarts, wie immer gab es ein großes Bohei. "Und dies ist ... die letzte Szene für Alan!" Applaus, Hurra-Rufe und so weiter. Es ist ein bisschen, als ob du deinen Körper verlässt, auf dich selbst hinabblickst und dir sagst: Dies hier ist jetzt zu Ende. Aber ein Schauspielerleben steckt voller letzter Tage - ein Projekt endet, das nächste beginnt.

SZ: Tatsächlich? Kein Bedauern? Oder vielleicht, ganz im Gegenteil: Erleichterung?

Rickman: In gewisser Weise habe ich gar nichts gefühlt. Gut, man hat natürlich diese engen Beziehungen, die sich über Wochen und Monate entwickeln. Hier war es sogar ein ganzes Jahrzehnt. Allerdings hatte ich pro Film nur etwa sieben Wochen Drehzeit. Dazwischen habe ich andere Filme gemacht, Theater gespielt, auch selbst inszeniert. Wenn ich dann wieder ans Set zurückkam, war das Kostüm immer dasselbe. Derselbe lange, schwarze Mantel. Der einzige Unterschied: Die drei Kleinen waren wieder ein Stückchen größer geworden.

SZ: Sie meinen Daniel Radcliffe, Emma Watson und Rupert Grint alias Harry, Hermine und Ron.

Rickman: Ich habe ihnen beim Erwachsenwerden zugesehen - und den anderen Kindern auch. "Neville" zum Beispiel war winzig und rund, als wir angefangen haben, heute ist er lang und dünn. Aus den niedlichen rothaarigen "Weasley"-Zwillingen sind diese 1,90 Meter großen Kreaturen geworden ... Sie hatten ihre eigene kleine Gemeinschaft am Set, die Kinder; wir Erwachsenen standen immer ein Stückchen abseits. Und plötzlich kam der Tag, als ich mit Daniel Radcliffe in New York saß, wir haben eine Tasse Kaffee getrunken und geredet. Ich weiß noch, wie ich plötzlich dachte: Das hier ist ein Gespräch auf Augenhöhe. Unter Erwachsenen. Dieser Moment hat mich berührt.

SZ: Daniel Radcliffe war mit zwölf Jahren Millionär; Sie sind in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Arbeiterklasse: Was bedeutete das in Ihrem Fall?

Rickman: Ganz einfach: Wir waren uns sehr bewusst, was die Dinge kosteten. Man konnte nicht einfach mit den Fingern schnippen und kriegen, was man wollte. Wir Briten leben nun einmal in einem Land, das vom Klassensystem bestimmt wird. Aber ich schätze meinen Hintergrund und meine Kindheit - was sie mich gelehrt, wie sie mich geformt hat.

SZ: Hat Ihnen nichts gefehlt?

Rickman: Nur materielle Dinge. Sonst habe ich alles bekommen, was ich brauchte: Liebe und die Ermutigung, ich selbst zu sein. Mein Vater fehlte mir natürlich. Er starb, als ich acht Jahre alt war.

SZ: Sie waren vier Kinder. Wie hat Ihre Mutter das hinbekommen?

Rickman: Sie hat eine ganze Reihe von Jobs gemacht. Büros geputzt, als Telefonistin gearbeitet, sie saß an einer Nähmaschine und nähte Bezüge für Autositze. Sie tat, was sie tun musste, um uns Kinder zu ernähren.

Rickman überzeugt auch als Frau

SZ: Wie geht Ihre Familie heute mit Ihrem Erfolg um?

Rickman: Sie freuen sich für mich, sind zum Glück aber auch nicht sehr beeindruckt. Ich glaube nicht, dass sie das, was ich tue, wichtiger finden als das, was alle anderen tun. Ehrlich gesagt reden wir überhaupt nicht über meinen Beruf. Meine Nichte erwartet gerade ihr zweites Kind, das finden wir interessanter.

SZ: Mit 13 Jahren haben Sie ein Stipendium für die renommierte West London Latymer Upper School bekommen. Wie viel verdanken Sie diesem Stipendium?

Rickman: Ich verdanke ihm alles.

SZ: Inwiefern?

Rickman: Weil ich auf eine großartige Schule gehen durfte, wo man dafür gefeiert wurde, wenn man sich für zwei so unterschiedliche Dinge interessierte wie Kunst und Physik. Nun ja, das wäre bestimmt nicht meine Wahl gewesen, aber es gab da einen Jungen in meiner Klasse: Als wir mit 16 zwei Hauptfächer wählen mussten, hat er sich für diese beiden Fächer entschieden. Er ist später Kunstlehrer geworden. Aber keiner hat ihn jemals gefragt: Kunst und Physik, was soll das? Meine Schule hatte auch eine große Theatertradition. Wir haben immerzu Stücke aufgeführt, auf ziemlich hohem Niveau.

SZ: Zutreffend, dass Sie sehr oft die Frauenrollen übernehmen mussten?

Rickman: Es war eine Schule für Jungen. Jemand musste es tun.

SZ: Wenn, sagen wir, Ihre Mutter eine ähnliche Chance bekommen hätte wie Sie, sie hätte wohl keine Autositze nähen müssen, oder?

Rickman: Das ist rein zufällig ein sehr gutes Beispiel, denn meine Mutter war eine außergewöhnlich begabte Sängerin. Sie hatte sogar ein paar Auftritte, aber dann starb mein Vater, und wir hatten kein Geld. So ist nie eine Karriere daraus geworden. Ich denke oft, wie ungerecht das war.

SZ: Bis zu Ihrem Durchbruch im Kino hat es eine Weile gedauert: Die erste Filmrolle, als Gegenspieler von Bruce Willis in "Stirb langsam", haben Sie mit 42 Jahren übernommen. Ist das Geschäft seither nicht recht schnell geworden?

Rickman: Man hat heute viel weniger Zeit, sich eine Karriere aufzubauen. Ich sitze im Vorstand der Royal Academy of Dramatic Art, wo ich auch studiert habe. Jedes Jahr bewerben sich 3000 junge Leute um 30 Plätze. Man braucht Talent, um dort aufgenommen zu werden. Aber wir leben auch in einer Welt, in der die Höhe der Wangenknochen entscheidend sein kann. Als ich die Schauspielschule verlassen habe, bin ich jahrelang in kleinen, regionalen Theatern aufgetreten. Die Ochsentour. Heute wissen unsere Absolventen, dass sie nächste Woche ein Filmstar sein können, wenn sie das richtige Gesicht dafür haben. Das Medium Film kann viele Makel zudecken.

SZ: Darf ich fragen, wie Sie heute in dieses Hotel gekommen sind?

Rickman: Ein Fahrer hat an meine Haustür geklopft, mich aufgesammelt und hergebracht. - Warum?

"Versuch' nicht so alt auszusehen"

SZ: Haben Sie manchmal den Eindruck, dass man Sie jetzt, wo Sie es sozusagen geschafft haben, von der wirklichen Welt abschottet?

Rickman: Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich erste Klasse geflogen bin. Oder, für mich noch eindrucksvoller, das erste Mal, als ich in eine Limousine mit verdunkelten Scheiben eingestiegen bin, auf dem Weg zu irgendeinem Termin: Wie diese Scheibe dann so hochsurrte und die Welt dahinter verschwand. Ich erfahre das alles auf einem sehr niedrigen Level, verglichen mit einigen der großen Namen des Filmbusiness - den Abgöttern der Welt! Aber es ist genau so, wie Sie sagen: Der vorrangige Zweck eines Erste-Klasse-Sitzes im Flugzeug oder einer Limousine mit dunklen Scheiben ist, mich an diesem Punkt meiner Karriere von der Welt fernzuhalten. Distanz zu schaffen.

SZ: Was wiederum ja auch ganz nützlich sein kann.

Rickman: Vieles davon ist kalkuliert. Durch die Distanz wirst du ein Objekt in den Phantasien der anderen. Man muss sich das immer bewusst machen: Das bist jetzt nicht du, das sind die Figuren, die du gespielt hast. Solltest du doch mal in einen Bus oder einen Zug steigen - nicht so sehr ich, sondern berühmtere Menschen -, dein Leben wäre die Hölle. Sie würden über dich herfallen wie Heuschrecken. Würde jemand wie Brad Pitt versuchen, bei Selfridges einzukaufen: Vergiss es.

SZ: Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, die Öffentlichkeit zu meiden?

Rickman: Ach nein, ich laufe immer noch hier in London rum, stehe Schlange und gehe in den Supermarkt, wobei ich zweifellos davon profitiere, dass die Engländer immer auf den Boden starren. In Amerika ist es schwieriger, weil die Leute dort so vernarrt sind in diese Idee von Prominenz.

SZ: Wir sprachen darüber, wie Sie Shakespeare gelesen haben. Ist es für einen Schauspieler nicht schwierig, so wenig zu tun?

Rickman: Doch, das ist es. Ein gutes Drehbuch hilft einem dabei. Oder auch ein guter Regisseur wie Ang Lee, mit dem ich "Sinn und Sinnlichkeit" gedreht habe.

SZ: Wie war das mit ihm?

Rickman: Er ist Taiwanese, sein Englisch war... nicht immer großartig. Er hat am Set Zettelchen verteilt, über die man sehr lange nachgrübeln musste, weil sie in diesem Hongkong-Englisch verfasst waren. Emma Thompson hat das alles in ihrem Tagebuch aufgeschrieben und es mir erst kürzlich wieder erzählt. Sie hat nach einer Szene von Ang Lee übrigens einen Zettel bekommen, auf dem stand: "Emma, versuch' nicht so alt auszusehen."

SZ: Nicht sehr schmeichelhaft ...

Rickman: Ja, aber er meinte nicht "alt", sondern "altklug". Auf meinem Zettel jedenfalls stand: "Alan, sei subtiler - tu' mehr!" Ich gebe zu, etwas verwirrt gewesen zu sein. Tatsächlich wollte er mir auf diesem Weg mitteilen, dass ich von dem subtilen Zeug mehr machen sollte. Ich vertraue ihm bis heute. Beim Filmemachen kann man etwas lernen, das einem später sogar auf der Theaterbühne weiterhilft: Du kannst einfach nur dastehen, nichts sagen, nichts tun - aber solange du wirklich etwas denkst, wird die Kamera diesen Gedanken abbilden. Das finde ich sehr ermutigend.

SZ: Ihr Minimalismus in Ehren, aber tatsächlich sind Sie ein berüchtigter "Scene Stealer". Ein Szenen-Dieb. Bruce Willis und ganz besonders Kevin Costner in "Robin Hood" sahen nicht immer gut aus neben Ihnen ...

Rickman: Das ist ein Begriff, den Journalisten auf manche Schauspieler anwenden. Es ist kein Konzept, das mir besonders gefällt.

SZ: Ich unterstelle jetzt mal, dass Sie das nicht absichtlich getan haben. Aber ist das nicht ein großes Kompliment?

Rickman: Mir wäre lieber, die Leute würden die Geschichte im Auge behalten. Was solche Etikettierungen angeht, da halte ich es wie mit YouTube: Ich ziehe es vor, mich nicht damit zu beschäftigen.

Alan Rickman wurde 1946 als zweites von vier Kindern in West London geboren. Ein Stipendium erlaubte es ihm, eine traditionsreiche Schule zu besuchen, wo er regelmäßig Theater spielte. Er studierte zunächst Grafik-Design und ließ sich dann an der Royal Academy of Dramatic Art zum Schauspieler ausbilden. Sein Erfolg als Vicomte de Valmont in der Theaterfassung von "Gefährliche Liebschaften" bescherte ihm 1988 die erste Filmrolle in "Stirb langsam". Es folgten u.a. "Robin Hood" mit Kevin Costner, "Sinn und Sinnlichkeit" und "Sweeney Todd". In allen acht "Harry Potter"-Filmen spielt er die Figur des Snape. Alan Rickman lebte seit 1977 mit der Labour-Politikerin Rima Horton zusammen.

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