Süddeutsche Zeitung

Alain Resnais zum 90.:Schnittmeister der Geschichte

Filme wollte er ausreißen lassen, "nicht zähmen wie ein Tier". Mit dieser Einstellung provozierte Alain Resnais einst die junge Bundesrepublik sogar zu diplomatischer Intervention. Nun wird der große Strukturalist der Kinomoderne neunzig Jahre alt. In seinem Werk finden sich aber nicht nur schwere Themen wie Holocaust und Hiroshima, sondern auch Comics und Chansons.

Tobias Kniebe

Diese Augenblicke, in denen das Kino seine Unabhängigkeit erklärt, immer wieder von neuem - sie liefern den Schlüssel. Sie sind es, die aus den dokumentarischen, literarischen, theatralischen und boulevardesken Etüden des Alain Resnais am Ende ein Werk schmieden, das anders kaum mehr auf einen Nenner zu bringen wäre - eine Art ausufernder, immer noch wachsender Mythos der Kinomoderne.

Zum Beispiel ist da diese unglaubliche dritte Minute in "Nuit et brouillard" (1955), seinem Filmessay über die Konzentrationslager. Leichenberge und Gaskammern werden später kommen - zunächst schneidet Resnais einfach Wachtürme hintereinander. Simple statische Einstellungen, architektonische Lösungen desselben Grundproblems: freies Schussfeld für die Wachen. Und der Dichter und KZ-Überlebende Jean Cayrol kommentiert, was man da sieht: Alpinstil, Garagenstil, Japanstil...

"Ein Film muss ausreißen können, man kann ihn nicht zähmen wie ein Tier", hat Resnais einmal gesagt. Und hier will nun dieses Gedicht der Trauer, dieses Großereignis von Cannes 1956, das die junge, gewissensverklemmte Bundesrepublik noch auf diplomatischem Weg verhindern wollte, ausreißen - und für einen Moment komisch sein. Sich lösen von der Form, die ein Inhalt scheinbar verlangt, und zugleich akzeptieren, dass vor der Wirklichkeit des Holocaust alle Formen gleich sind, weil sie versagen müssen - das ist die große, bahnbrechende Erkenntnis dieses frühen Experiments.

Wie dann die Bilder mit den Texten ringen und die Texte mit den Bildern, und wie ihrem Zusammenspiel nie mehr ganz zu trauen ist - darin liegt auch der Zauber von Resnais' ersten Spielfilmen. In "Hiroshima mon Amour" (1959) erhebt er sich über das Betroffenheitsthema Atombombenopfer genauso wie über den raunend-masochistischen Text, den Marguerite Duras ihm geschrieben hatte.

Und in "L'Année dernière à Marienbad" (1961) gleitet seine Kamera genauso autonom an den Stuckornamenten von Schloss Nymphenburg entlang wie an den endlosen Wortkaskaden Alain Robbe-Grillets - bis klar werden muss, dass es ein letztes Jahr in Marienbad tatsächlich nie gegeben hat.

Bei Godard und Truffaut, den großen Rebellenkollegen dieser Aufbruchszeit, genoss Resnais schon seit seinen frühen Kurzfilmen höchsten Respekt. Seine Wirkung auf das Publikum aber war damals viel breiter: Freunde des literarischen Kinos fühlten sich von seiner Zusammenarbeit mit Duras, Robbe-Grillet, Cayrol und Jorge Semprún angesprochen, Kunstgenießer liebten seine abgezirkelten Kamerafahrten, Weltverbesserer sahen progressive Themen und humanitäre Moral. So war er eine Zeitlang der große Konsenserneuerer des Kinos - ein Missverständnis, wie sich erweisen sollte.

Ein großer Autonomer

Denn Resnais, 1922 in Vannes geboren und 1943 an der neugegründeten Pariser Filmhochschule zum Cutter ausgebildet, ist seinem Wesen nach ein Mann der Montage - und also, wenn je ein Filmemacher diesen Ehrentitel verdient hat, Strukturalist. Fremde Bilder kompilieren, fremde Texte bebildern, für fremde Themen eine eigene Struktur finden, die kühnes Kopfkino ist und trotzdem emotionale Wucht entfalten kann - das ist bis heute seine Leidenschaft, sein eigentliches Ausdrucksmittel.

Ein großer Autonomer, wo andere Filmkünstler noch verbissen um "ihre" Themen ringen, an ihren kleinen, engstirnigen Autorenbiografien basteln. Nach Eisenstein sei Resnais der zweite große Schnittmeister der Filmgeschichte, hat Godard schon vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben.

Wahr daran ist, dass Resnais sich tatsächlich bald von der hohen Literatur und den "wichtigen" Sujets verabschiedet hat. Comics, Chansons und Boulevardstücke lagen ihm, wie sich zeigen sollte, immer schon genauso nah: Nach Henri Bernstein drehte er "Mélo", Alan Ayckbourn lieferte ihm gleich zwei Vorlagen, darunter das brillante Doppelspiel um Schicksal und Zufall "Smoking / No Smoking".

In "On connait la chanson" wiederum durften ein Dutzend Figuren im Paris der Gegenwart ihren Gefühlen dadurch freien Lauf lassen, dass sie im Vollplayback richtige Gassenhauer schmetterten - von "Paroles, paroles" bis "Nathalie".

Die Montage, das wurde erst mit den Jahren sichtbar, ist für Resnais immer auch ein Spiel gewesen - und als Spieler mit großer Theatertruppe bestritt er auch seinen jüngsten Auftritt vor zwei Wochen in Cannes: ein Grandseigneur mit schlohweißem Haar, ein großer Stilist auch in der Selbstdarstellung, mit knallrotem Hemd und schwarzer Krawatte.

Ans Aufhören denke er keineswegs, erklärte er dort - und in seinem Alter habe er auch keine Zeit mehr, vor einem neuen Projekt lange nachzudenken. "Vous n'avez encore rien vu" ist der Titel des aktuellen Films: Ihr habt noch gar nichts gesehen. Was schon ein echtes Versprechen ist, wenn er am Sonntag seinen neunzigsten Geburtstag feiert.

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SZ vom 02.06.2012/mahu
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