Al Pacino in Venedig:Al überall

Sein Hemd: schlabberig. Seine Taschen: ausgebeult. Seine Botschaft: So liebt ihr mich! Beim Filmfestival von Venedig ist Al Pacino der gefeierte Mittelpunkt, stellt seinen neuen Film "Wild Salome" vor und wird für sein Lebenswerk geehrt. Er ist zu alt, zu reich und zu berühmt, um hier noch Quatsch zu erzählen.

Tobias Kniebe

Vor der Lounge im Hotel Excelsior quetschen sich die Massen. Sie wissen: Er ist da drin. Man sieht ihn zwar nicht von außen, die Gewissheit seiner Präsenz ist aber trotzdem zu spüren. Am Ende dieses brütendheißen Tages zwingt sie die stärksten Deodorants in die Knie. So ungefähr stellt man sich die Hölle vor, und zwar einen Kreis im Inneren, für den selbst Dante noch nicht die richtigen Worte fand.

68th Venice Film Festival - Wilde Salome Premiere

Al Pacino und Lucila Sola auf dem roten Teppich für ihren gemeinsamen neuen Film "Wild Salome".

(Foto: dpa)

Wer aus diesem Backofen ins Kühle hineindarf, um sich ein frostiges Glas Bellini gegen die Stirn zu pressen, bestimmt der Uhrenhersteller Jaeger-LeCoultre. Die Firma ist erstmals 2007 eingesprungen, als das Festival von Venedig seine Ehrenpreise nicht mehr allein finanzieren wollte. Und wie das so ist: Wer den Privatjet und die Suite bezahlt, der sagt dann auch, wo's langgeht.

Die Menschen in der Lounge sind entweder reich oder große Nummern im Uhrenvertrieb. Die Männer sehen alle so aus, als ob sie gern Al Pacino wären - und zwar in seiner grellsten, neureichen "Scarface"-Phase. Die Frauen dagegen sehen aus wie Pacinos 31-jährige argentinische Freundin, allerdings in verschiedenen Stadien des Verfalls.

Männer wie Frauen filmen und knipsen wie wild mit ihren Smartphones, obwohl ihnen klar sein müsste, dass sie sich nicht wie Volltrottel benehmen sollen. Weil sie doch selbst wichtig sind. Das hilft hier aber nichts. Es muss viel Kraft kosten, Al Pacino zu sein. Ganz besonders in Italien.

Wenn sich ein Pulk mit Al Pacino in der Mitte irgendwo hinbewegt, ist der Schauspieler praktisch immer das kleinste Element. Auch jetzt auf dem Roten Teppich. Er macht aber trotzdem einfach, was ihm gerade so einfällt. Als zerstreuter Professor strebt er mal hierhin zu den Fans, mal dorthin zu den Fotografen. Und der Pulk strebt mit.

Im Grunde ist der Pacino-Pulk ein eigenes amorphes Wesen, das von Pacinos Willen gesteuert wird, ohne dass der noch einen Gedanken daran verschwendet. Man verschwendet ja auch keine Gedanken an die Steuerung der eigenen Füße.

Pacino hat erkennbar sehr viel Erfahrung darin, Pacino zu sein. Er macht das jetzt seit 71 Jahren, um genau zu sein. Und ja, er kann es sogar genießen, wie sich dann auf der Bühne zeigt. Sein aus der Hose hängendes Seidenhemd, seine faszinierend ausgebeulten Smokingtaschen, seine wild in alle Richtungen strebenden Haare haben eine gemeinsame Botschaft: Ihr liebt mich doch so, wie ich bin. Was natürlich die Wahrheit ist.

Er wird frenetisch gefeiert, aber er scheint sich zunächst ganz unfrenetisch einfach zu freuen. Erst nach ein paar Minuten bricht kurz der Superstar aus ihm heraus. Was soll das, dass ich hier Englisch rede, fragt er rhetorisch, und röhrt dann: "I'm an Italian." Dann spricht er drei Sätze italienisch, es klingt überzeugend genug, und die Menge tobt. Es werden dann allerdings die einzigen drei Sätze bleiben, die er auf Italienisch sagen wird.

Er wächst noch immer

Den Film, der dann läuft, kündigt er als "eines meiner kleinen Experimente" an. Die meisten dieser Experimente habe er nie veröffentlicht, erklärt er, aber manchmal schlüpfe doch eines hinaus aus der Werkstatt und ins Kino hinein, so wie seinerzeit seine Shakespeare-Studie "Looking for Richard". Und so wie jetzt eben "Wilde Salome". Etwas Wichtiges zu dem Film will er eigentlich noch sagen, aber es ist ihm gerade entfallen.

68th Venice Film Festival - Wilde Salome Photocall

Jessica Chastain überreichte Al Pacino in Venedig den Preis für sein Lebenswerk.

(Foto: dpa)

Macht nichts, im Film selbst redet er dann nämlich auch gleich weiter. Das Folgende, sagt er, soll eine Dokumentation und eine obsessive Untersuchung sein, mit gänzlich offenem Ausgang. Es geht um Oscar Wilde und dessen Theaterstück "Salome", diesen biblischen Erotikthriller in Judäa, mit Schleiertanz und dem abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers auf dem Silbertablett. "Oft wird es so aussehen, als wisse ich nicht, was ich tue", sagt Pacino zu einem Mitarbeiter - "und dann weiß ich es wirklich nicht."

Pacinos "ehrgeizigsten und zugleich vollständigsten" Film nennt Festivalchef Marco Müller das Werk bei der Preisverleihung. Das muss man nicht unterschreiben, aber faszinierend ist "Wilde Salome" doch allemal. Pacino dokumentiert einen Theaterabend als szenische Lesung, gleichzeitig inszeniert er das Ganze als Film. Außerdem forscht er in England und Irland nach Erkenntnissen aus Oscar Wildes Leben, wobei die Gefahren des Eros naturgemäß eine große Rolle spielen.

Pacino selbst spielt Herod Antipas - der lüsterne Provinzfürst als alternder Monarch, der das Kind in sich wiederentdeckt. Er ist dabei in einer Weise bei sich, wie man es wahrscheinlich nur als alternder Monarch des Weltkinos sein kann.

Die wunderbare Entdeckung des Films aber ist Jessica Chastain. Sie war schon die mütterliche Lichtgestalt in Terrence Malicks "Tree of Life", ihr wahres Potential kann man aber erst an diesem Abend in Venedig ahnen. "Wilde Salome" war ihre erste Kinoerfahrung, noch vor Malick, Pacino ihr erster großer Regisseur.

Man darf nun gewissermaßen hinter den Kulissen beobachten, wie sie sich großäugig und staunend in diese Erfahrung hineinbegibt, wie sie sich unter dem liebevollen und zugleich gnadenlosen Blick Pacinos behauptet, wie sie ihm schließlich Momente von Begehren und Besessenheit schenkt, die sich durch alle Linsen der Kamera hindurchbrennen.

Jessica Chastain ist es dann auch, die Pacino hier in Venedig den Preis für sein Lebenswerk überreicht. Auf der Bühne wirkt sie immer noch großäugig und staunend, aber sie ruht auch auf eine Weise in sich selbst, die ihren Aufstieg zu noch größerem Ruhm praktisch unausweichlich macht.

Sie nennt Pacino den "größten Lehrer der Schauspielkunst", er nennt sie im Gegenzug ein "junges Genie". Das wirkt tatsächlich ganz wahrhaftig, der Mann ist auch einfach zu alt, zu reich und zu berühmt, um gerade in solchen Dingen noch Quatsch zu erzählen. Und wenn es noch eines Beweises für seine Größe bedurft hätte, dann ist es der gänzlich zweckfreie Stolz, der in diesem Moment aus seinen Augen blitzt.

Der Ruhm eines Meisters wächst irgendwann nur noch mit dem, was er an die nächsten Generationen weitergibt. Al Pacino ist wieder der Kleinste in dem Pulk, der jetzt durch das Blitzlichtgewitter den Saal verlässt. Aber er wächst noch immer.

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