Al Gore und der Sensations-Oscar:"The Goracle" ist wieder da

Der Mann war politisch so tot, wie man als Mann nur tot sein kann. Jetzt hat er für seinen emotionalen Stimmungsbericht von der Klimafront gleich zwei Oscars bekommen - und alle fragen sich: Warum wird so einer nicht doch noch US- Präsident?

bgr

Sechs Jahre nach seiner hauchdünnen Wahlniederlage gegen US-Präsident George W. Bush in der umstrittensten Präsidentschaftswahl der US-Geschichte hat Ex-Vizepräsident Al Gore späte Genugtuung erfahren und feiert nun ein unglaubliches Comeback - nicht in der Politik, sondern im Filmgeschäft.

Al Gore und der Sensations-Oscar: Es ist die unglaubliche Wandlung eines gescheiterten Präsidentschaftskandidaten, der sich in den vergangenen Jahren neu erfunden hat.

Es ist die unglaubliche Wandlung eines gescheiterten Präsidentschaftskandidaten, der sich in den vergangenen Jahren neu erfunden hat.

Der Film "Eine unbequeme Wahrheit" von Regisseur Davis Guggenheim mit Al Gore in der Hauptrolle gewann in zwei Kategorien: Als bester Dokumentarfilm und für den besten Filmsong. Der Film thematisiert Gores Kampf gegen den Klimawandel - und kaum jemand erhielt bei der Oscar-Gala so viel Jubel wie der frühere Vizepräsident. Gores triumphaler Auftritt nährt nun die Spekulationen um die Frage, ob er im kommenden Jahr nicht noch einmal für die Präsidentschaft kandidieren will. Als US-Schauspieler Leonardo DiCaprio mit Nachfragen bohrte, ließ Gore das Publikum für ein paar Sekunden die Luft anhalten, um dann die Lacher auf seiner Seite zu haben: "Meine Mitbürger, ich nutze die Gelegenheit, um formell meine Absicht zu erklären..." Der Rest des Satzes ging in Musik unter, und Gore verschwand lachend von der Bühne. Kurz sah es sogar so aus, als wolle Gore von der Hollywood-Bühne aus seine Rückkehr in die Politik ankündigen. "Meine lieben Amerikaner", begann er mit ausladender Geste. Doch was folgte, war lediglich ein umweltpolitischer Appell. "Wir müssen die Klimakrise lösen", sagte Gore. "Das ist keine politische Frage, sondern eine moralische Frage." Filmstar Leonardo Di Caprio hatte ihn zuvor unter großem Applaus als "inspirierende Führungspersönlichkeit" gewürdigt.

Wenige Stunden vor der Oscar-Gala hatte ihn der frühere US-Präsident Jimmy Carter zur Kandidatur aufgefordert. "Für seine Herzensangelegenheit, den Klimaschutz, könnte Gore im Weißen Haus unendlich mehr tun als selbst durch seine Filme", sagte Carter dem Sender ABC. Die "Washington Post" feierte ihn auf der Titelseite als "Rockstar" und "coolsten Vizepräsidenten, den wir je hatten". Dass Gore regelmäßig eine Kandidatur ausschließt, konnte die Spekulationen nicht stoppen. Manche mögen sich bei Gores Anblick auf der Oscar-Bühne ausgemalt haben, was geschehen wäre, wenn Gore 2000 mit einigen hundert Wählerstimmen mehr den Sieg gegen Bush davongetragen hätte: Der desaströse Krieg gegen den Irak wäre wahrscheinlich nie begonnen worden. Gore hat ihn von Anfang an abgelehnt. In der Klimaschutzpolitik wären die USA nun eher ein Vorreiter als der weltweit kritisierte Bremser, zu dem Bush das Land gemacht hat. Dass Gore nun auch noch für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, lässt das internationale Ansehen der Bush-Regierung im direkten Vergleich besonders dürftig erscheinen. Für Al Gore markiert der Triumph von Hollywood die Krönung eines Comebacks von ganz unten. Selbst Parteifreunde hatten ihm vor sechs Jahren vorgehalten, durch einen miserablen Wahlkampf einen beinahe sicheren Sieg verspielt zu haben. Wer seine Chance aufs Weiße Haus vertan hat, ist in der US-Politik normalerweise am Ende seiner Karriere. Konsequenterweise stieg Gore nach der Niederlage aus der Politik aus, lehrte an der Universität und wurde zum politischen Vortragsreisenden über ein Thema, dass ihn seit seiner Studienzeit bewegt: der Klimawandel infolge der Erderwärmung.

Auf dem Vortrag, den Gore bei seinen Reisen schon seit Jahren über das Thema hält, basiert der preisgekrönte Film. Hier nimmt der seit drei Jahrzehnten tätige Umweltaktivist Zuschauer und Leser mit auf eine verblüffende emotionale und intellektuelle Reise. Gore erklärt leicht verständlich und mitunter überraschend witzig, warum sich die Erde erwärmt, welche Auswirkungen das hat und was jeder Bürger dagegen tun kann. Gore schenkt seinen Landsleuten, die rund ein Viertel der weltweiten Energie verbrauchen, im Film 100 Minuten lang die bittere Wahrheit ein. Ganze Teile Manhattans oder des Großraums San Francisco würden im Wasser versinken, wenn die Ozeane als Folge der Erderwärmung anstiegen. Selbst das Weiße Haus hätte Seeblick, wenn der Potomac in Washington über die Ufer treten würde.

Eingestreut sind Bilder aus dem Alltag des Reisenden: Gore doziert, zieht seinen Koffer durch Flughafenhallen und sitzt am Laptop. Das sieht ein bisschen nach Volkshochschule aus, und doch wurde der Film zum Kassenschlager: Weltweit spielte er 45 Millionen Dollar ein und wurde damit zum dritterfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten - hinter Michael Moores Anti-Bush-Polemik "Fahrenheit 9/11" und dem Vogel-Epos "Marsch der Pinguine".

Teilweise erklärt sich die Resonanz auf den Gore-Film gerade in den USA mit einem schlagartig gewachsenen Interesse an Umweltthemen. Während die Bush-Regierung weiter alle verbindlichen Schritte zur Eindämmung der Treibhausgase verweigert, haben viele US-Bundesstaaten längst ihre eigenen Programme zum Klimaschutz gestartet. In dieser Debatte wurde Gore als Autorität wiederentdeckt. Der Intellektuelle aus Tennessee plädierte bereits 1992 in seinem Bestseller "Wege zum Gleichgewicht" für eine radikale Wende im Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Es ist die unglaubliche Wandlung eines gescheiterten Präsidentschaftskandidaten, der sich in den vergangenen Jahren neu erfunden hat. In einer Ein-Mann-Show zog Al Gore nach der Wahlniederlage mit einem Dia-Vortrag durch die Lande und warnte vor den Folgen des Klimawandels. Plötzlich hätten ihn die Leute ganz anders kennen gelernt, nicht mehr steif und roboterhaft, sondern entspannt und glücklich, schreibt die "Washington Post".

Die Fangemeinde feiert Al Gore inzwischen wie einen Rockstar. In Boise im Bundesstaat Idaho waren die 10 000 Eintrittskarten für seinen Vortrag schneller ausverkauft als das Pop-Konzert von Elton John. "Wir müssen die Klimakrise lösen", sagte Gore mit dem Oscar in der Hand. Dies sei keine politische, sondern eine moralische Frage. Wegen seiner düsteren Mahnungen vor der Katastrophe trägt Al Gore in Abwandlung des englischen Wortes oracle (Orakel) den Spitznamen "The Goracle".

Der Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und Klimawandel wird immerhin nicht mehr total geleugnet. Allerdings bekennt Al Gores Nachfolger als Vizepräsident, Dick Cheney, dass er sich den preisgekrönten Film weder angesehen hat noch ansehen werde.

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