Süddeutsche Zeitung

Aktionen:Temporäres Tempolimit

Performance und Straßenkunst feiern die Magie des Moments

Von Laura Helene May

Ein Moment der Ruhe, einfach mal nichts tun. Ausharren. Darf man das? Oder ist man dann ein Faulenzer? Dauergehetzte, immerbewegte, Burnout-gefährdete Mitbürger werden sich dieser Frage bei der Darbietung "The Turtle" des Straßenkünstlers Pieter Post stellen müssen. Die "Slow-Show" des Belgiers expliziert die ungemeine Bedeutung des Nichtstuns anhand einer Schildkröte. Der erste Teil der Nummer dreht sich um die "Bibliothek" mit 36 Werken über das Nichtstun. Darüber wird schon sehr lange nachgedacht, Friedrich Nietzsche stellte 1882 fest: "Der Hang zur Freude nennt sich bereits ,Bedürfniss der Erholung' und fängt an, sich vor sich selber zu schämen."

Sehr entspannt bewegt sich die Schildkröte im zweiten Teil der Show zum finalen Blattsalat (im wahrsten Sinne "Slow Food") und ihrem letzten Sprung. Weniger ist hier mehr. Durch die entschleunigte Szenerie hält der Zuschauer inne, beginnt nachzudenken und geht zuletzt mit erfrischter Seele und befreitem Geist weiter zur nächsten Stimulation des Alltags - und Reize gibt es im Tollwood-Marktgetümmel in Massen. Nach der Show wird jeder froh sein, dass sie vorbei ist, sich jedoch großartig fühlen. Pieter Post schenkt den Menschen die Zeit, die sie sonst nie haben (17.-21. Juli).

Viel Zeit, aber wenig Ruhe hat auch der Namensgeber des Stückes "Sisyphus" der Company Satchok. Das französisch-deutsch-niederländische Artistentrio unterstreicht in seiner Akrobatiknummer, dass der Prozess und nicht das Resultat am Ende des Tages das ist, worum es geht. Es nimmt dabei Albert Camus beim Wort, nach dem man sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen müsse, und feiert mit Zusammenspiel und Körperbeherrschung die Harmonie des Augenblicks (5.-9. Juli).

Auch der anarchistische Clown Murmuyo aus Chile möchte auf die groteske Alltagsrealität des modernen Menschen aufmerksam machen. Mit der Konstruktion von Chaos will er bestehende Strukturen durchbrechen und dem Publikum mindestens eine bittere Träne entlocken (11.-15. Juli). Das Teatro Pachuco aus Belgien reiht sich mit "Saxophone Man" in die subversive Kunstform des chilenischen Gastes ein und verbindet Elemente des Stummfilms mit Clownerie. Am Ende läuft ein Mann durch die Straßen, dessen Kopf ein Saxofon ist. Die Absurdität der Gesellschaft soll damit den Besuchern vorgehalten werden (26.-30. Juni).

Ob durch The Trick Brothers und deren Skilanglauf im Sommer (die Besucher können sich im Selbstversuch auf schneefreie Winter vorbereiten; 30. Juni bis 4. Juli), ob durch verrückte Frisuren der spanischen Osadía-Crew (10.-16. Juli) oder durch die Gruppe Pepe Arts aus München, die in ihrem tanzartistischen Stück "Identity" der Frage nachgehen wollen, wer wir eigentlich sind (29. und 30. Juni, 13. Juli): Performance und Straßenkunst des diesjährigen Tollwood laden zu Reflexion, Entschleunigung und etwas Faulenzen ein.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2019
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