Aktfotografie um 1900:Erforschung der Nacktheit

Frauen mit schönen Körpern haben unschöne Gesichter und andersherum: Diese und andere irre Annahmen haben sich mit dem Aufkommen der Aktfotografie um 1900 in Deutschland verbreitetet.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

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Aktfotografie um 1900:Zwei Frauen auf einem Karussellschwein

Nackte um 1900

Quelle: @Collection GERARD LEVY, Paris/Fotograf unbekannt

Frauen mit schönen Körpern haben unschöne Gesichter - und andersrum: Welch irre Annahmen sich mit dem Aufkommen der Aktfotografie um 1900 in Deutschland verbreiteten und wie stark sich das Schönheitsbild in 100 Jahren doch gewandelt hat, zeigt eine interessante Ausstellung mit dem selten blöden Titel "Die nackte Wahrheit und anderes" im Museum für Fotografie in Berlin.

Zwei Frauen auf einem Karussellschwein: Was will uns diese Abbildung bedeuten? Dass es plötzlich möglich war, Menschen in ihrer ureigensten Erscheinungsform, nämlich nackt, öffentlich und massenhaft zu zeigen. Ohne irgendwelche Einflussnahmen von Malern, ganz so, wie die Natur sie geschaffen hat.

Durch das Aufkommen und die Verbreitung und Optimierung der Fotografie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wuchsen die Möglichkeiten jedweder Abbildung der Welt. Somit natürlich auch die des menschlichen Körpers. Die Ausstellung "Die nackte Wahrheit und anderes - Aktfotografie um 1900" im Museum für Fotografie in Berlin widmet sich nun just diesem Teil der frühen Fotografie. Dass diese vor 100 Jahren nicht nur dem privaten Vergnügen diente, ist eines der interessanten Details, die die Ausstellung bereithält.

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Aktfotografie um 1900:Postkarte mit Aktmotiv

Nackte um 1900

Quelle: @Sammlung Robert Lebeck, Berlin/Fotograf unbekannt

Diese junge und sehr nackte Dame wurde sogar öffentlich verschickt - mit der Post, wie die abgestempelte Postkarte zeigt. Von Prüderie also kaum eine Spur, stattdessen: öffentliches Interesse daran, wie denn nun die anderen Menschen genau aussehen, unter ihren Kleidern. Oft auch wissenschaftliches und medizinisches.

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Aktfotografie um 1900:Charcot spielt Fußball

Nackte um 1900

Quelle: @École nationale supérieure des beaux-arts, Paris/Albert Londe/Reprofoto: Jean-Michel Lapelerie

Wie genau funktionieren die Bewegungsabläufe des menschlichen Körpers, welche Bewegungen wirken vor der Kamera, diesem neuen Gerät, vorteilhaft - und welche weniger? Wie sieht der bestmögliche Menschenkörper aus, männlich wie weiblich, in welchem Alter und in welchem Zustand und in welcher Region befindet sich der ideale Mensch? Weil mit der Fotografie die Vergleichsmöglichkeiten wuchsen, fand auch die Wissenschaft darin ein nützliches Werkzeug, um Vergleiche an - und Regeln aufzustellen. Mit aus heutiger Sicht teils erschreckendem Inhalt.

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Aktfotografie um 1900:Beim Bildhauer

Nackte um 1900

Quelle: @Société francaise de photographie, Paris/Léon Gimpel

Nicht nur chronologische Bewegungsabläufe von Normalbürgern wurden zu Studienzwecken fotografiert. Auch das übliche Aktmodell konnte nun viel müheloser zu Test- und Übungszwecken per Foto "eingefroren" werden. Vom Maler wurde die Aufnahme immer dann hervorgeholt, wenn eine Armbeuge oder Hüftbewegung noch einmal genau studiert werden musste. Doch auch die von den Nationalsozialisten Jahrzehnte später zu übelster Rassenlehre verdichtete physische Anthropologie fand mittels Fotografie damals schon ihre angeblichen wissenschaftlichen Belege für bessere und schlechtere Menschen(körper).

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Aktfotografie um 1900:Transparenz

Nackte um 1900

Quelle: @Münchner Stadtmuseum/Rudolf Lehnert & Ernst Landrock

Teils zu Studienzwecken, teils zum privaten Vergnügen wurden auch in fernen Ländern, auf Reisen und Expeditionen Fotos aufgenommen, gerne von nackten Frauen, die die vermeintliche Überlegenheit der deutschen und europäischen Rasse gegenüber den Einheimischen ferner Länder demonstrieren sollten. Mittels besonders kontrastreicher Ausleuchtung und ähnlichen Hilfsmitteln wurden etwa Schwarzafrikanerinnen so unvorteilhaft dargestellt, dass der unbedarfte Betrachter in Deutschland kaum umhin kam, zu glauben, "der Neger an sich" sei von unterentwickelter Statur.  

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Aktfotografie um 1900:Adam und Eva

Nackte um 1900

Quelle: @Staatliche Museen zu Berlin

Vor allem die Begleittexte in den ausgestellten Büchern mit Titeln wie "Die Schönheit des weiblichen Körpers" oder "Aristokratie. Archiv und Chronik für Genealogie und Genealität, Literatur-Annalen für Geburts- und Geistesadel" strotzen vor rassistischen, chauvinistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Anmaßungen gegenüber allem, was nicht dem Muster des hochgewachsenen hellen Mitteleuropäers entsprach.

Indem Körpermerkmale gesichtet, verglichen und bewertet wurden, "Paarungsmaterial" identifiziert und anderes abgewertet wurde, sollten die Grundlagen dazu vermittelt werden, den idealen Menschen zu züchten. Bildbände mit Aktfotografien zur Veranschaulichung sollten dabei helfen. Bücher wie "Das Weib" von 1897 von Paul von Gizycki, der die Auffassung vertrat, dass sich ein schöner weiblicher Körper eher selten zu einem schönen Gesicht geselle - und anders herum - und die populärwissenschaftlichen Lehrbücher des Gynäkologen Carl Heinrich Stratz verkauften sich wie warme Semmeln. Vor allem letzterer erfreute sich mit seinen "Vorschriften zur Erhaltung und Förderung weiblicher Schönheit" großer Verkaufserfolge. Darin schrieb er auch dezidiert vor, wie etwa eine weibliche Brust genau auszusehen habe. Bloß nicht zu klein, auch bloß nicht zu groß, sondern ein mädchenhaftes "Halbrund" sei das ideale Maß der Dinge.

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Aktfotografie um 1900:Weiblicher Akt

Nackte um 1900

Quelle: @Estate of the Artist/Galerie Kicken Berlin/Heirnich Kühn

Nicht nur in den Schriften, sondern auch an den Bildern wird deutlich, wie stark sich die (Schönheits-)Ideale in nur 100 Jahren doch gewandelt haben. Abgesehen von ein paar Aktfotografien aus Frankreich oder Italien zeigen vor allem die Aufnahmen aus Deutschland deutlich kräftigere Frauenkörper als sie heute üblicherweise auf Nacktaufnahmen zu sehen sind, die der Verbreitung dienen.

Hüfte, Beine, Oberschenkel deutlich ausladender, die Oberweite hingegen deutlich zurückhaltender - die damaligen Frauenkörper waren noch nicht durch Bauch-Beine-Po-Kurse oder Fitnessstudios getrimmt, Brustvergrößerungen unbekannt. Insofern hat die Aktfotografie um 1900 mit der heutigen Pornographie wenig gemein - außer der Nacktheit. Und doch war sie ihr Vorläufer. Und Wegbereiter für einen Bildtypus, der aus dem heutigen Alltag kaum noch wegzudenken ist.

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Aktfotografie um 1900:Die 250-Pfund-Riege des 1. Männer-Stemm-Klub München-Au

Nackte um 1900

Quelle: @Niedersächsisches Institut für Sportgeschichte, Hannover/Fotograf unbekannt

Stolz posierten auch damals schon die Mitglieder des Männer-Stemm-Klubs München-Au für die Illustrierte Athletik-Sportzeitung (im Bild). Ringer und Muskelspiele gab es zwar schon in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden - aber nun konnte dank der Fotografie gezielt und öffentlich verglichen werden: Wer hat die besser ausgeformten Muskeln, an welcher Stelle seines Körpers genau, und wer hat das Zeug zum idealen Muskelmann?

Der deutschle Athlet Eugen Sandow, 1867 in Königsberg geboren, 1925 in London gestorben, kam diesem Ideal schon sehr nahe: Seinen von Natur aus nach heutigen Maßstäben eher gedrungenen Körper stählte er mittels eigens entwickeltem Krafttraining so gezielt, dass er sogar auf dem Rücken noch die kleinsten Muskelpartien für das Publikum deutlich sichtbar tanzen lassen konnte. Ein Filmchen in der Ausstellung legt Zeugnis davon ab.

Bald veranstaltete er Bühnenshows in ganz Europa und sogar in den USA, in diesen "Muscle Displays" stemmte er zur Freude des Publikums ganze Pferde. Als er starb, wurde die Geschichte verbreitet, er sei an einer Hirnblutung gestorben, die ausgelöst wurde, weil er ein Auto hochgestemmt habe, um ein verunglücktes Kind zu retten. In Wahrheit war es wohl die Syphilis, die ihn dahinraffte. Wegen seiner großen Popularität eiferten ihm unzählige junge Männer nach - das "Bodybuilding" war geboren.

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Aktfotografie um 1900:Olga Desmond, Schwertertanz

Nackte um 1900

Quelle: @Staatliche Museen zu Berlin/Otto Skowranek

Sein weiblicher Konterpart der damaligen Zeit: Olga Desmond (1890-1964), Tänzerin aus Berlin. Während sie sich zur Schauspielerin ausbilden ließ, verdiente sie ihr Geld als Aktmodell für Künstler und Maler - und brachte die erlernten Posen als 18-Jährige tanzend auf die Berliner Bühnen. Ihre "Schönheitsabende" sorgten für Furore (im Bild: Schwertertanz) und machten sie über die Grezen Deutschlands hinaus bekannt. In ihren Shows hauchte sie antiken Statuen tanzend Leben ein - nach dem damaligen Vorbild natürlich nackt. Später wich ihr statuarischer Tanzstil dem Ausdruckstanz, 1933 nahmen außerdem die Nazis ihren Ehemann wegen seiner jüdischen Wurzeln fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdiente sich die ehemalige "ideale Frau" in Ost-Berlin ihren Lebensunterhalt bis zu ihrem Tod als Putzfrau.

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Aktfotografie um 1900:Akt beim Kopfstand

Nackte um 1900

Quelle: @Universität der Künste, Berlin/Fotograf unbekannt

Um 1900 war die öffentliche Nacktheit gerade erst wiederentdeckt worden. Dementsprechend wurde in den damals zur Verfügung stehenden Medien und mittels Werbung allgemein und eindringlich zur Körperertüchtigung mittels Sport und frischer Luft aufgerufen - zur besseren Nacktheit.

Doch es gab nicht nur das ideale Bild vom nackten Menschen. Schon damals hatten die Sittenwächter ihre Mühe, das pornografische vom künstlerisch anspruchsvollen, das volkerziehende vom zensierungswürdigen Bild zu trennen. Mithilfe des neuen Paragrafen "Lex Heinze" (benannt nach einem für besondere "Unsittlichkeit" bekannten Berliner Zuhälter) beschlagnahmte die Polizei um 1900 Abertausende von Bildern in den Studios und in den verschiedenen Vertriebskanälen.

Der immer größer werdenden Aktbildproduktion tat das allerdings keinen Abbruch. Einige dieser beschlagnahmten Bilder sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen, und es fällt - bis auf wenige Aufnahmen von Schwergewichtigen oder Prostituierten beim Sex mit teils mehreren Partnern - schwer, zu erkennen, was genau die zensierten von den öffentlich verbreiteten Fotos unterscheiden soll. Am Ende sind es eben alles Bilder von Nackten.

Um 1900 löste man das Problem der "Unsittlichkeit" in vielen Fällen mit dem vorgeblichen Interesse an feinsinniger Kunst. "Nur für Kunstbeflissene" war das Passwort für die unzensierte Produktion von Aktfotografien. Ginge man nach der Menge des verwendeten Materials, so heißt es im Begleittext zur Ausstellung augenzwinkernd, hätten die Künstler um 1900 die mit Abstand größte Berufsgruppe in Deutschland bilden müssen.

Unter dem Vorwand, für Putten, Engelchen und zahllose Venus- und Apollfiguren Modell zu stehen, wurden auch viele Kleinkinder in der damaligen Zeit zum Nacktmodell. Die Ausstellung zeigt eine relativ große Auswahl dieser Bilder. Aus heutiger Sicht, da Pädophilie deutlich stärker negativ konnotiert ist als in früheren Jahrhunderten, eine schwierige Gratwanderung.

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Aktfotografie um 1900:Sizilianische Knaben bei Taormina

Nackte um 1900

Quelle: @Berliner Gesellschaft für Anthropologie/Wilhelm von Gloeden

Die "Sizilianischen Knaben bei Taormina" (im Bild) stammen von dem deutschen Fotografen Wilhelm von Gloeden (1856 - 1931), der in Sizilien arbeitete. Seine Aufnahmen nackter junger Männer nach antikem Vorbild, mit antikisierenden Requisiten, Kostümen und Körperhaltungen gelten bis heute als Pionierarbeit der Aktfotografie - er lebte offen homosexuell.

Viele auch spätere Künstler ließen sich von seinem Werk beeinflussen, darunter Andy Warhol, Robert Mapplethorpe und Joseph Beuys. Oscar Wilde, Richard Strauss und Kaiser Wilhelm II. reisten nach Taormina, um die Eleganz und auch die Schönheit der Natur aus den Fotos in der Realität wiederzufinden. Ein Großteil der schwulen Nachkriegsfotografie zehrte noch von dem Einfluss Gloedens.

Die Ausstellung widmet dem Thema Homosexualität und Aktfotografie einen eigenen Part und zeigt unter anderem die erste homoerotische Zeitschrift "Der Eigene" mit Gedichten und Aufsätzen von Schwulen, die in der wilhelminischen Ära, während der Männerfreundschaften als systemtragend geschätzt, Homosexualität aber kontrovers diskutiert wurde, erste zarte Schritte in die mediale Öffentlichkeit wagten.

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Aktfotografie um 1900:Poet im Baum

Nackte um 1900

Quelle: @Berlinische Galerie/Fotograf unbekannt

Warum aber ausgerechnet eine Ausstellung wie diese, die eben nicht auf die bloße Zurschaustellung von immer gleicher Nacktheit abzielt, sondern geschickt Wissen darüber vermittelt, zu welchen Anlässen, mit welchen Zielen und mit welchen Ergebnissen Aktfotografie auch gesellschaftlich eingesetzt wurde, warum also eine solch differenzierte Ausstellung den schnöden, lahmen und abgegriffenen Titel "Die nackte Wahrheit und anderes" tragen muss, ist nicht ganz nachvollziehbar. Abgesehen davon: sehr sehenswert.

"Die nackte Wahrheit und anderes" - Aktfotografie um 1900 im Museum für Fotografie Berlin, Jebensstr. 2, noch bis 25. August. Weitere Infos: http://bit.ly/10db49t

© Süddeutsche.de/pak/leja
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