Ai Weiwei und die Proteste:Unser aller Individuum

Gemeinsames Gehen, Sitzen, Protestieren und Appellieren hilft alles nichts: Der chinesische Künstler Ai Weiwei bleibt verschwunden. Das macht ihn zur Sehnsuchtsfigur des Westens.

Barbara Gärtner

Jetzt also auch noch die Kölner Oper. Die Verantwortlichen wollen, dass Ai Weiwei das Bühnenbild für die Neuproduktion von Fidelio im kommenden Jahr entwirft. Fragen konnten sie ihn nicht. Denn Ai Weiwei ist verschleppt, seit fast vier Wochen. Aber eine Pressemeldung wert ist das schon. Wenn es aus China keine Neuigkeiten über den Verbleib des wichtigsten Gegenwartskünstlers des Landes gibt, dann schafft sich der Kulturbetrieb seine Nachrichten eben selbst. In Momenten der Hilflosigkeit verfallen alle in bewährte Muster.

Der Westen tut, was er in solchen Fällen macht: Unterschreiben, Aufrufen, Mahnen, Appellieren, Buttons anstecken. Das Duisburger Lehmbruck-Museum widmet seine zehn Quadratmeter große Werbetafel in der Innenstadt dem Wunsch: "Free Ai Weiwei". Die Londoner Tate Modern macht das schon länger. Oben auf ihrem Dach, zum Abschluss von Ai Weiweis Sonnenblumeninstallation, lädt sie an diesem Samstag zur gemeinsamen Gehperformance mit dem Konzeptkünstler Hamish Fulton, es solle eine meditative Erfahrung werden. Bei der Kassler Sitzprotestaktion vergangene Woche stempelte der bisher nicht sonderlich aufgefallene Künstler Zaki Al-Maboren die angeschleppten Stühle zum Protest-Hocker.

Die Berliner Universität der Künste peitscht die Gastprofessur-Finanzierung für Ai Weiwei schneller durch als üblich. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert erwog am Dienstagabend im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine Schließung der deutschen Ausstellung zur Kunst der Aufklärung im Pekinger Nationalmuseum.

Jeder zweite Kulturfunktionär ist von Ais Verhaftung öffentlich betroffen. Und China? Schweigt. Zumindest das offizielle. In Blogs und regierungsnahen Zeitungen wie der Global Times wird geätzt und gelästert. Doch eine Anklage gegen den Künstler gibt es bislang nicht.

Seine Galeristen, Kuratoren und Freunde sind zu Krisensprechern geworden. Man kann mit ihnen über die Vorteile eines Wirtschaftsverfahrens contra eines politischen Prozesses für Ai diskutieren. Seit 3. April wird der Künstler, Regimekritiker, Blogger und Architekt nun festgehalten, alles, was bleibt, sind Mutmaßungen.

An eine schnelle Lösung glaubt sein Galerist Urs Meile nicht. Seit 1997 vertritt er Ai, der mit seiner ersten Einzelausstellung 2004 im Kunstmuseum Bern auf dem internationalen Kunstradar auftauchte. Inzwischen ist Ai Weiwei im Westen der Künstler, auf den sich alle einigen können. "Die Preise", sagt Meile, "haben sich seit 2005 wahrscheinlich verfünffacht." An seiner Kunst, glaubt der Galerist, haben die chinesischen Behörden wenig auszusetzen. "Es geht nicht um das Produkt; es geht um seine Einstellung."

Ai ist nicht der einzige, der in den vergangenen Wochen in China Repressalien erlitt. Die Initiative Human Rights Watch meldet, dass seit dem 16. Februar rund 25 Anwälte, Aktivisten und Blogger festgehalten wurden. Zwischen 100 und 200 Personen erhielten Vorladungen oder wurden unter Hausarrest gestellt. "Die gegenwärtige Razzia auf Aktivisten in China ist die heftigste seit einem Jahrzehnt", meldet Human Rights Watch; in den Nachrichten liest man über die anderen Opfer aber kaum etwas.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was die Betroffenheitsmaschine wirklich ins Rattern bringt.

Der Künstler, wie wir ihn uns wünschen

Die Erzählweise des Westens ist die Heldensaga. Anne Frank und ihr Tagebuch geben dem Holocaust ein Gesicht so wie Schillers Wallenstein dem Dreißigjährigen Krieg. Die Großaufnahme auf das kleine Leben ist das Prinzip der journalistischen Reportage und des Hollywood-Dramas; Hartz IV macht Florida-Rolf anschaulich, das Unglück in Japan der Fischer aus Sendai. Solange ein Problem nicht am Beispielwesen vorgeführt wurde, scheint es in unserer Kultur kaum zu existieren.

Die Arbeiten von Ai Weiwei haben eine andere Perspektive. Sie betrachten die Gruppe als Masse - und die wird bei ihm zum Ornament, wenn er 9000 Schulranzen der 5335 beim Erdbeben in Sichuan verunglückten Kindern an die Fassade des Münchner Hauses der Kunst aufhängt, 3600 Kilo gepressten Tee zu einem Häuschen im Dahlemer Museum für Asiatische Kunst aufschichtet oder in die Turbinenhalle der Tate Modern 100 Millionen Porzellan-Sonnenblumenkerne schüttet. Jeder Porzellankern wurde angefasst, handbemalt, aufgewertet. Die Masse, sagt diese Kunst, besteht aus vielen kostbaren kleinen Einheiten.

Diese Kunst spiegelt uns unseren Blick auf China. Dort ist das Einzelne wichtig, Teil des Ganzen - aber wir sehen nur die formierte Masse, das Ornament. Die Chinesen sind viele, und so, als eben jene Masse betrachtet, werden sie in unserer Wahrnehmung zur Macht, zur Bedrohung. Für die Lebensumstände interessieren wir uns erst, wenn wir ein Einzelschicksal herauslösen können, mit ihm leiden und hoffen.

Just in dem Moment, da Deutschland in Peking mit der Aufklärungs-Schau die Entdeckung des Individuums feiert, glauben die Deutschen, im geschundenen Einzelnen Ai Weiwei China zu erkennen. Ai verkörpert dabei den Künstler, wie wir ihn uns seit der Renaissance wünschen: als Einzelgänger, als Sonderling, als Rebell, der für seine Kunst und Weltsicht kämpft und leidet, sie beglaubigt, indem er alles gibt.

Das Leid dieses Einzelnen ist natürlich sehr bestürzend. Doch die Betroffenheitsmaschine, welche die Verhaftung von Ai Weiwei routiniert ins Rattern bringt, hat mehr mit unserem Identifikationswillen zu tun als mit China. Ai Weiwei erinnert an alle deutschen Künstlergestalten, an die wir in den vergangenen Jahrzehnten Wut und Leidenschaft delegierten: Die Haltung ist die von Beuys, dem Mahner, das Schluffig-Glamouröse erinnert an Rainer Werner Fassbinder, und solche Aktionen fanden wir bei Christoph Schlingensief auch schon interessant. Ai Weiwei ist uns nah, vielleicht ein bisschen mehr, seit seine Pläne für ein Atelier in Berlin die Runde machten, aber auch, weil sein Kunstheroe Marcel Duchamp heißt - wie bei eigentlich jedem Künstler, der nun beim Berliner Gallery Weekend ausstellt.

Die Wirkung von Ai Weiwei ist bei den Solidaritätsdemonstrationen am nachhaltigsten zu spüren: Der Künstler ist verschwunden, seine soziale Plastik erschafft sich jetzt selbst. Als die Sorge um Ai Weiwei Hunderte Menschen weltweit dazu brachte, ihre Stühle vor die chinesischen Konsulate zu schleppen, sich dort zu setzen und zu schweigen, luden sie auch das Wort "Aktionskunst" mit einer wortwörtlichen und wuchtigen Bedeutung auf. Denn diese Protestaktion war ein Zitat. Stühle und Menschen, davon handelte Ais Projekt "Fairytale" für die Documenta. 1001 Chinesen samt historischer Stühle flog er 2007 dafür nach Kassel, die Menschen sollten aufschreiben, was ihnen von dieser deutschen Fremde erzählenswert erschien und dann zu Hause aus der Heimat der Grimm'schen Märchen berichten. Von den Chinesen und den chinesischen Stühlen bleibt den Besuchern und Rezensenten heute vor allem eines in Erinnerung - die Anzahl.

Auch der Schriftsteller Liu Xiaobo wurde in einem heftig kritisierten Verfahren verurteilt und eingesperrt. Der Friedensnobelpreisträger durfte nicht zur Verleihung nach Oslo fahren. Auch damals wurde protestiert. Auch bei ihm weiß kaum einer, wie es ihm geht. Um Ai Weiwei muss ebenfalls mit Nachdruck auf politischer Ebene gerungen werden.

All das Mahnen und Demonstrieren und Unterschreiben aber, das machen wir, so ehrlich sollten wir sein, auch für unser eigenes Gefühl. Wenn die Sehnsucht übermächtig wird und der Realitätsbezug klein ist, dann könnte man auch Kitsch dazu sagen. Insofern wird mit all den Wir-tun-was-Aktionen das tatsächliche Leid von Ai Weiwei benutzt.

Ja, Demonstrationen können Systeme ins Wanken bringen, wir haben das bei den Montagsdemonstrationen der DDR selbst erlebt und nun vor dem Fernseher, bei den Bildern aus dem Nahen Osten sehen können. Wirkung erzielt man damit nur, wenn man das vor dem eigenen Regierungssitz oder vor dem eigenen Bahnhof tut. Ansonsten ist eine Frühlingssonntagssitzung vor einem Konsulat nur Zwischenstation, bevor man vielleicht in den Biergarten weiterzieht.

Bei der Sitzaktion in München hockten rund achtzig Personen nahe der chinesischen Botschaft, schweigend. Eine Dame in Schwarz rüttelte an den Gitterstäben, die anderen schauten zu. "Einige Wachleute werden schon drin sein", sagte die Frau. "Ich habe Schatten gesehen."

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