Enttäuschung, die seit seinem Umzug nach Deutschland in einer zunehmend negativen veröffentlichten Meinung Ausdruck gefunden hat. Das ist sowohl der als mangelnd wahrgenommenen Kritik an China geschuldet, als auch dem Umstand, dass er ein Selfie mit der AfD-Politikerin Alice Weidel machte. Besonders harsch fiel vor allem die Reaktion darauf aus, dass er sich 2016 an einem Strand in der Pose des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi fotografieren ließ. War das nicht einfach die Ausschlachtung einer Tragödie?
Ai Weiwei versteht bis heute die Aufregung nicht: "Zunächst mal ist das keine Arbeit von mir, sondern eine Pose, die ich auf Bitte eines Fotografen von India Today eingenommen habe." Aber er habe auch keine Sekunde gezögert: "Ich bin ein Künstler, und für mich ist jede Geste in Ordnung. Selbst der Hitlergruß ist nur eine menschliche Geste. Sie repräsentiert etwas Falsches, aber ohne das Falsche wissen wir nicht, was richtig ist."
Es gibt gute Gründe, solche Gleichsetzungen provokant zu finden. Doch was sein Werk angeht, würde man, insbesondere angesichts der Düsseldorfer Schau, rasch in Verlegenheit geraten, wollte man ihm Inkonsequenz vorhalten. Ai Weiweis Engagement für Flüchtlinge, sei es durch seinen Film "Human Flow", sei es durch Arbeiten wie "Laundromat", ist unbestritten. Besonders in der letztgenannten Installation mischt sich der investigative Aspekt seines Zugangs, den er seit "Straight" entwickelt hat, mit einer Art materieller Überwältigungsstrategie: 2046 Kleider, zurückgelassen bei der Räumung des griechischen Flüchtlingslagers Idomeni im Jahre 2016, ließ er reinigen, flicken und bügeln.
Dass er durch die Aneignung der Kleider von den Flüchtlingen profitiere, will er übrigens nicht gelten lassen: Sie seien ja bereits auf dem Müll gewesen, als er sie habe einsammeln lassen. Nun hängen sie im K21 auf metallenen Garderobenwagen, säuberlich aufgereiht, Readymade-Mahnmale aus Baumwolle und Nylon. Neuere Arbeiten, wie eine Reihe von sechs blau-weißen Porzellantellern (2017) und die schwarz-weiße Tapetenarbeit "Odyssee" (2016), führen nicht nur die Flüchtlingsthematik fort, sie bilden gleichsam eine Synthese mit Ais fortgesetzter Beschäftigung mit Mythen und überzeitlicher Bildsprache: Griechische Hopliten und IS-Kämpfer mit abgeschnittenen Köpfen schlagen den Bogen kriegerischer Gewalt, Europa reitet auf ihrem Stier zwischen Menschen, die in Plastiksäcken ihre Habseligkeiten vor dem Konflikt in Sicherheit bringen. Auch die Köpfe chinesischer Tierkreiszeichen, die er für "Circle of Animals/Zodiac Heads" auf Stangen gespießt hat, tauchen in der Bambusskulptur "Life Cycle" (2018) wieder auf, als die Häupter geflüchteter Menschen, die in einem Gummiboot ins Ungefähre treiben.
Die beiden Soldaten, die ihn bewachten, tauten langsam auf, erzählten ihm Persönliches
Die Herauslösung des Individuums aus der Anonymität der Masse, der Mechanisierung des Systems, bildet das thematische Rückgrat all dieser Arbeiten. Das gilt besonders für "S.A.C.R.E.D." (2012): Sechs Metallkisten, jede 377 mal 198 mal 153 Zentimeter groß, je mit einer Tür und einem Fenster versehen. Man blickt ins Innere auf sechs Dioramen, hyperrealistische Fiberglasfiguren im Stil Ron Muecks, etwa ein Drittel Lebensgröße, die Szenen aus Ais 81-tägiger chinesischer Untersuchungshaft im Jahre 2011 darstellen: Er isst, wird verhört, duscht, geht auf und ab, schläft, geht zur Toilette. Rund um die Uhr bewachen ihn zwei junge Soldaten.
Ai Weiwei erzählt im Gespräch davon, wie die beiden langsam auftauten und ihm persönliche Dinge anvertrauten (ein Effekt, den der britische Dramatiker Howard Brenton im Vorwort zu seinem Dokumentarstück "Die Verhaftung Ai Weiweis" als "umgekehrtes Stockholmsyndrom" bezeichnet hat). "Den Geruch eines Menschen, seine Augenfarbe - all das kann man nicht ideologisch beurteilen", sagt Ai.
Der Herausforderung, ja Paradoxie dieses hochindividualisierten Zugangs angesichts großer Menschenmassen hat er sich im Laufe der Jahre auf unterschiedliche Weise gestellt. Die grandioseste Lösung sind sicher die "Sunflower Seeds". Jene 100 Tonnen künstlicher Sonnenblumenkerne, mit der er 2010 den Boden der Turbinenhalle in der Londoner Tate Modern bedeckte, sind im K20 erstmals wieder in ihrer Gesamtheit zu sehen. Säuberlich zu einem gigantischen Rechteck geformt, flach und tief zugleich, manifestiert sich in ihnen am eindrücklichsten das Prinzip dieser komplexen, großartigen Werkschau und von Ai Weiweis Grundüberzeugung: das Prinzip der Gleichheit aller Menschen.
Ai Weiwei im K20 und K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, bis 1. September. Info: kunstsammlung.de, Katalog 32 Euro.