Afghanistan:"Hört nicht auf zu singen, hört nicht auf zu üben"

Musikschule

Unterricht im Afghanistan National Institute of Music.

(Foto: Regina Schmeken)

Nach der Machtübernahme der Taliban fürchten afghanische Musikerinnen um ihre Zukunft. Der Direktor des Nationalen Musikinstituts versucht nun aus dem Ausland zu helfen.

Von Helena Zacher

Immer wieder wird das Gespräch vom Klingeln eines Telefons unterbrochen. "Wenn es um Musik geht, wenden sich die Leute an mich", erklärt Ahmad Sarmast. Der Leiter des Afghanistan National Institute of Music - bislang die einzige höhere Musikschule des Landes - sitzt in seinem Büro in Melbourne, hinter ihm hängen gerahmte Diplome. In den Neunzigerjahren fand Sarmast hier Asyl, später kehrte er nach Kabul zurück, um das Institut aufzubauen. Am 12. Juli hatte er Afghanistan verlassen - nur wenige Wochen bevor Kabul wieder in die Hände der Taliban fiel. Der 58-Jährige reiste zu einer medizinischen Behandlung aus und wollte Verwandte in Australien besuchen.

Die vielen afghanischen Kulturschaffenden, die nun Kontakt zu dem Musikwissenschaftler suchen, rufen vor allem aus zwei Motiven an: aus Angst und aus Hoffnung. Angst haben sie vor der Intoleranz der Taliban gegenüber der Musik, ihre Hoffnung ist, dass der im Ausland gut vernetzte Ahmad Sarmast ihnen irgendwie helfen kann. "Ein ganzes System, ein ganzes Land, das zwanzig Jahre lang durch die Opfer vieler Afghanen und Afghaninnen aufgebaut wurde, kollabierte einfach über Nacht", beschreibt Sarmast die Geschehnisse der vergangenen Wochen.

Heute versprechen die Taliban, einem toleranteren Ansatz zu folgen als während ihrer ersten Herrschaft, die vor 25 Jahren begann. Sie hätten nicht vor, Repressalien gegen ihre ehemaligen Feinde zu verhängen, und erklärten, dass Frauen innerhalb der Grenzen des islamischen Rechts arbeiten und studieren dürften.

Musikschule

Gemeinsames Musizieren begreift Ahmad Sarmast auch als Projekt der nationalen Aussöhnung.

(Foto: Regina Schmeken)

Doch die gewalttätige Vergangenheit der Islamisten ließ bei vielen Afghanen von Beginn an Zweifel an deren Versprechen aufkommen - vor allem auch Künstler und Musiker zeigten sich skeptisch. Von 1996 bis 2001 zerstörten die Islamisten Instrumente, verboten Kassetten und Tonträger mit nichtreligiösen Inhalten, töteten Musiker. Infolgedessen kam es zu einem Exodus von Künstlern. Die Musikausbildung brach vollkommen zusammen, erzählt Sarmast, der nach seiner Flucht in Moskau auf das Konservatorium ging und in Australien in Musikwissenschaft promovierte.

Auf Zugeständnisse sind die Taliban nicht mehr angewiesen

Nun zeigt sich eine Wiederholung dieser Entwicklung. Bereits im März dieses Jahres hatte das afghanische Bildungsministerium angeordnet, dass Frauen und Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr nicht mehr in der Öffentlichkeit singen dürfen, der Beschluss galt damals als ein Zugeständnis an die Taliban. Auf solche sind diese nach ihrem Einmarsch in Kabul nicht mehr angewiesen - sie diktieren nun die Regeln. Und bereits jetzt häufen sich Berichte, dass ein neues Musikverbot in Afghanistan in Kraft getreten ist und Bildungseinrichtungen geschlossen wurden. Auf Twitter finden sich Fotos von zerstörten Instrumenten in Musikstudios.

Immer wieder wird in den sozialen Medien behauptet, dass diese Bilder der Zerstörung aus dem Afghanistan National Institute of Music von Ahmad Sarmast stammen - noch sind das aber glücklicherweise Fehlinformationen, wie der Leiter versichert. Die Instrumente und das Schulgebäude seien Informanten zufolge noch intakt. Doch auch er begegnet den Versprechen der Taliban mit Skepsis - befürchtet, dass seine Institution nun vor dem Aus steht. Die Wachen, die vor der Schule postiert waren, sind nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul verschwunden, nun kontrollieren die Islamisten die Einrichtung.

Seit die Schule 2010 eröffnet wurde, galt sie als ein Symbol für den Wandel Afghanistans. In der Einrichtung des Bildungsministeriums wurden Hunderte junge Künstler - darunter viele Waisen und Straßenhändler - in Traditionen ausgebildet, die die Taliban einst verboten hatten. Etwa im Spielen der Rubab, die einer Laute ähnelt und eines der Nationalinstrumente Afghanistans ist. Westliche Klänge standen jedoch ebenso auf dem Lehrplan.

Auf den Institutsleiter wurden Anschläge verübt

Doch nicht nur die Musik an sich dürfte die konservative Fraktion unter den Taliban stören, sondern auch vieles andere an Sarmasts Institut: Unter dem Namen Zohra formierte sich ein reines Frauenorchester, das Tragen von Kopftüchern auf dem Schulcampus ist freiwillig, Mädchen machen ein Drittel der Schülerschaft aus - schon deshalb weil Sarmast und seine Kollegen bislang benachteiligte Kinder fördern wollten. Das Afghanistan National Institute of Music, so hatten es sich seine Gründer vorgenommen, sollte Bildung unabhängig von sozialen Umständen, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht bieten.

Wohl auch deshalb war das Institut bereits vom ersten Tag an Zielscheibe der Taliban. Sarmast selbst wurde 2014 von einem Selbstmordattentäter verletzt, der sich bei einer Schulaufführung in die erste Reihe geschlichen hatte. Ein deutscher Zuschauer starb, Sarmast überlebte - verlor aber durch den Anschlag vorübergehend sein Gehör. Die Taliban erklärten, dass sie weiter versuchen würden, den Institutsleiter zu treffen. In den folgenden Jahren kam es zu mehreren Angriffsversuchen auf die Schule.

Musikschule

Neben westlicher Musik unterrichtete das Institut in Kabul auch die Rubab, das Nationalinstrument Afghanistans.

(Foto: Regina Schmeken)

In der Folge wurden die Sicherheitsvorkehrungen immer strenger, die Schulgemeinschaft musizierte jedoch weiter, erzählt Sarmast. "Die afghanische Nation und das afghanische Volk haben das Recht auf Zugang zur musikalischen Bildung, zur Musikausübung und auf einen Lebensunterhalt durch Musik." Sich gegen die Musik Afghanistans zu stellen, bedeute, sich gegen die Kultur und das Erbe des Landes zu stellen. Viele der im Heimatland verbliebenen Mitarbeiter und Schüler befinden sich aktuell in Verstecken , sagt Sarmast, er sei in ständigem Kontakt mit ihnen.

Höhere Mauern allein werden nicht reichen

Beim Versuch, die Künstler in Sicherheit zu bringen und ihnen dabei zu helfen, für ihre Rechte einzustehen, hofft Sarmast vor allem auf Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Speziell zu Deutschland habe das Institut eine besondere Beziehung. Nicht nur seien die Schüler des Instituts schon oft auf deutschen Bühnen aufgetreten, sondern hätten über die Jahre hinweg große Unterstützung vonseiten der Regierung erfahren - auch in Zeiten der Pandemie. Sarmast hofft, dass diese Partnerschaft bestehen bleiben kann.

Wie die Unterstützung aus dem Ausland nun aussehen kann, das müssen Sarmast und seine Kollegen erst noch ausloten. So versuchte das ausländische Unterstützernetzwerk der Schule in den letzten Wochen vor der Machtergreifung der Taliban die Sicherheit auf dem Campus durch Maßnahmen zu erhöhen, die eher auf die Abwehr von Anschlägen ausgerichtet waren - etwa durch die Installation eines bewachten Tores und Verstärkungen der Mauern. Aber was für eine Art von Hilfe wird nun nötig und möglich sein, da die Gruppe, die bislang die Anschläge verübte, selbst die Regierung stellt und für Sicherheit sorgen will?

Bis er eine Antwort auf diese Frage geben kann, setzt Sarmast vor allem auf Mut und Durchhaltevermögen. Seine Kollegen und Schüler bittet er daher vor allem: "Hört nicht auf zu singen, hört nicht auf zu üben. Macht weiter. Hört auf, euch selbst zu zensieren. Steht für eure Rechte ein." Musik sei schließlich mehr als bloße Unterhaltung und Kunst. Sie könne Einheit schaffen, über ethnische Differenzen hinaus ein Gefühl der Verbundenheit erlebbar machen. "Wir alle sind uns der heilenden Kraft der Musik bewusst", sagt Sarmast. Und er sei überzeugt, dass ein durch jahrelangen Krieg traumatisiertes Land wie Afghanistan "von dieser heilenden Kraft profitieren würde." Gerade jetzt.

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