Süddeutsche Zeitung

"Affe" von Ben Becker:Weinen für die Weltrevolution

Lesezeit: 3 min

In seinem neuen Solo übt Ben Becker Kapitalismuskritik als Affe - frei nach Kafka und Engels. Ein Abend für harte Fans im Berliner Admiralspalast.

Von Anna Fastabend

Vermutlich muss ein Abend mit Ben Becker genau so losgehen. Ein überlebensgroßes Plakat mit seinem Konterfei am Eingang des Berliner Admiralspalasts. Davor Frauen mittleren Alters, die wie Teenager kichernd Selfies machen. Warum sie heute hier sind, beantworten sie so: "Seine Stimme!" - "Er, allein auf der Bühne, das reicht schon, das ist Kunst." Sie hätten ihn bereits in "Ich, Judas" gesehen, seinem Soloabend von 2015, deshalb freuen sie sich, heute hier zu sein, zur Premiere seines neuen Bühnenprogramms "Affe".

Im großen Saal tritt ein gelber Farbklecks vor den lila Vorhang. Es ist Ben Becker höchstpersönlich, der von den hinteren Sitzreihen nur schlecht zu erkennen ist. Das Gelbe kommt daher, dass er einen dotterfarbenen Arbeitsoverall trägt. "Ich wollte kurz mal sehen, wie ihr ausseht", sagt er. Er sei ein bisschen aufgeregt, es habe nur wenig Zeit zum Proben gegeben. Sobald er zu sprechen anfängt, hört man lustvolles Stöhnen hinter sich. Hier hat jemand vermutlich gerade einen kleinen Orgasmus. Der Vorhang geht auf, dramatische Musik, die der Vorspann von "Odyssee im Weltraum" sein könnte oder von "Universal Pictures". Sie signalisiert, dass gleich etwas Bedeutendes geschehen wird. Dazu laufen Zitate über die Leinwand: "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums" - "Sie hat den Menschen selbst geschaffen."

Die Zitate stammen aus Friedrich Engels' Fragment "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen", einem der beiden Texte, auf die der Soloabend "Affe" zurückgreift. Der andere Text ist Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie", eine Zivilisationskritik aus dem Munde eines Affen, der bei einer Jagdexpedition gefangen wurde und zusehends zum Menschen wird.

Das kommende Video zeigt Becker im Affenkostüm. Er hockt ziemlich depressiv in einem verästelten Baum und geht später - oh Wunder - schwimmen. Moment! Wer hat Becker, der selbst Regie geführt hat, dramaturgisch zur Seite gestanden? John von Düffel, bekannt auch als die Wasserratte unter den Dramaturgen (er ist passionierter Schwimmer und Autor des Romans "Vom Wasser"). Dann sieht man Becker auf allen vieren ein Frachtschiff schrubben - immer noch im Video. Gerade, als man sich fragt, ob man ihn wohl auch mal live zu Gesicht bekommt, schlurft er im gelben Arbeiteroverall auf die Bühne. Das Gesicht blass geschminkt, dazu eine künstlich hochgezogene Augenbraue. Seine Figur: ein trauriger Clown, der mit Schrubber in der Hand aus Engels' Kapitalismusanklage zitiert. Diese Entstehungsgeschichte des Anthropozäns ist natürlich harte Kost, sehr moralisch, und so trägt Becker sie auch vor, null ironisch, dafür mit deutlich erhobenem Zeigefinger.

Die Menschheit, der Klimawandel - alles schlimm. Aber Ben Becker arbeitet daran

Und er weiß genau, warum die Ladys heute gekommen sind: wegen seiner rauchigen, wie in Whisky marinierten Stimme, mit der er so theatralisch herumtönt, wie man sich früher die deklamatorische Bühnensprache vorgestellt hat. Es scheint, als wolle er in jedes Wort seine ganze Seele legen, aber seine Seele wiegt schwer, und deshalb leiern die Worte aus. Man weiß oft gar nicht, wovon er redet.

Erstes Gähnen in Reihe elf. Dann sausen Lichtkegel durch den Raum wie bei einem Polizeieinsatz. Aus Becker, dem Schiffsarbeiter, wird Becker, der Affe. Jetzt ist Kafkas Zeit gekommen. Becker, nun im Zirkusdirektorkostüm, erzählt vom Martyrium seines tierischen Protagonisten. Für einen kurzen Moment hört man ihm andächtig zu. Das Eintauchen in eine Figur liegt ihm mehr als die politische Analyse. Er wirkt, als wäre er ganz bei sich, dann aber scheint er sich wieder daran zu erinnern, dass man wegen seiner Stimme hier ist, und steigert sich in die Übertreibung hinein.

Irgendwann kommen ihm die Tränen. Die Menschheit, der Klimawandel, das ist alles wirklich schlimm. Und jetzt? Kurze Verwirrung bei der Lichtregie, weil Becker vor dem Abspann unbedingt alle Beteiligten auf die Bühne holen will. Ja, es gibt einen Abspann wie im Kino, und da steht, dass in Sri Lanka gedreht wurde, wenn man das jetzt richtig gelesen hat. Ernsthaft, Sri Lanka? Ziemlich klimaschädlich mit dem Fliegen und dem ganzen CO₂ und so. Aber Becker springt mit Siegerfaust über die Bühne und ruft "Rock 'n' Roll!" und "Wir arbeiten dran!". Aber woran bloß? Ob an diesem pathetischen Abend, der durch Deutschland touren wird, oder an der Weltrevolution, bleibt vorerst offen.

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Quelle:
SZ vom 20.02.2020
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