Süddeutsche Zeitung

Big-Thief-Sängerin Adrianne Lenker:"Alles isst und wird gegessen"

Kauzige Nomadin? Schon. Aber es gibt gerade auch wenige Songwriter, Frauen wie Männer, denen große Worte so gut passen wie zu der Amerikanerin Adrianne Lenker.

Von Joachim Hentschel

Nein, die Künstlerin ist einem nicht auf den ersten Blick sympathisch. Adrianne Lenker, Sängerin, Songschreiberin und Bandleaderin, neigt auf Fotos zu dem mies gelaunten Blick, der zu signalisieren scheint: in Ruhe lassen, bloß nicht ansprechen. Oft sitzt sie irgendwo im Wald, im Survivalgebiet - mit Mütze und bei schlechtem Wetter. Also an Orten, an die man sich begibt, weil man nicht gefunden werden will. Für einen Popstar ist das erst mal eine eher kontraproduktive Haltung.

Die hochkonzentrierte Kauzigkeit konnte dennoch nicht verhindern, dass Adrianne Lenker, 29, aus Indianapolis, aktuell als eine der wichtigsten, aufregendsten Stimmen der US-Musikszene gilt. Ihre Band Big Thief, eine ruppige, wuschelhaarige Folkrocktruppe mit Sitz in Brooklyn, hat im vergangenen Jahr gleich zwei umjubelte Alben veröffentlicht, eines wurde für den Grammy Award nominiert. Barack Obama setzte einen Big-Thief-Song auf die Playlist mit seinen privaten 2019er-Favoriten - zwischen Beyoncé, Lizzo und Frank Ocean. Die Europatour, bei der Lenker und ihre Genossen im Frühjahr 2020 in ausverkauften Sälen spielten, war eines der letzten Pop-Großereignisse vor der Corona-Zäsur. "Ihre rohe Ehrlichkeit gibt der Musik eine seltsame, mitreißende Qualität", urteilte etwa das Magazin New Yorker, das kürzlich zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres einen längeren Beitrag über Lenker brachte.

Das Leben der Mutter als Göttinnensage

Und natürlich ist da Vorsicht geboten: Das sind schließlich die naheliegenden Impulse, wenn eine junge Frau traurig im Grünen hockt und singt: Ehrlichkeit, Authentizität, emotionale Bekenntnislaune. Adrianne Lenker ist aber gerade deshalb eine so umwerfende Künstlerinnenperson, weil sie genau solche Achtsamkeitslyrik eben nicht produziert. Ihre Songs malen oft mächtige, krasse, mitunter blutige Bilder, schweifen vom Buchstäblichen direkt ins Mythische und erfinden dabei ihre jeweils eigene, schräge Logik. Und sie formen sich von selbst zu sonderbaren musikalischen Klumpen, die mit den Schemata des scheckheftgepflegten Indie-Folk wenig zu tun haben. Als ob Emily Dickinson oder Sylvia Plath in richtig tollen Bands gesungen hätten, die im Konzert eine Menge Lärm machten. Lenker klingt, als wollte sie mit jedem ihrer Stücke blitzezuckend die Appalachen-Americana ganz neu zur Welt bringen.

Man nehme nur: "Not", einen der bekanntesten Songs von Big Thief, in dem Lenker eine fein austarierte und trotzdem brutale Poetik der Verneinung entwickelt. Zeile um Zeile beginnt mit "not" oder "nor". Lenker brüllt und ringt mit den vielen, vielen Worten, die alle nur davon zu erzählen scheinen, dass sie eigentlich nicht die richtigen sind. In "Mythological Beauty" kleidet sie Szenen aus dem Leben ihrer Mutter in eine Art griechische Göttinnensage. Und in "Ingydar" - einem Stück aus ihrem neuen, gerade erschienenen Soloalbum "Songs and Instrumentals" - triggert der Anblick eines tot im Stall liegenden Pferdes Gedanken über das Scheitern der Liebe: "Alles isst und wird gegessen, die Zeit ernährt sich davon." Es gibt gerade wenige Songwriter, Frauen wie Männer, denen große Worte so gut passen wie Adrianne Lenker.

Ein Videotelefonat. Adrianne Lenkers Smartphone steht auf dem Couchtisch, sie ist bei Freunden in den Catskill Mountains untergeschlüpft, drei Autostunden nördlich von New York. "Ich muss gleich an meinem Trailer weiterbasteln", kündigt sie an - ein kleiner, mehr als 50 Jahre alter Wohnwagen der US-Marke Cree, der ihr mobiles Zuhause werden soll. Lenker hat seit sechs Jahren keinen festen Wohnsitz. Sie lebt aus dem Kofferraum ihres Toyota-SUV - eine Mischung aus allgemeiner Rastlosigkeit und dem Dasein einer hart tourenden Musikerin.

"Am weitesten kommt man, wenn man seine Vorbilder imitiert"

Ihre Eltern waren selbst Vagabunden. Sie entflohen dem Zwangsleben einer obskuren christlichen Sekte, als Lenker sechs war. Zu dieser Zeit brachte sie sich auch selbst das Gitarrespielen bei. Mit 14 veröffentlichte sie ein verstörendes, von ihrem Vater mitproduziertes Album, auf dem sie als Country-Prinzessin Popsongs für Truckerradios sang. Über Umwege kam sie an ein Stipendium für das berühmte Berklee College of Music in Boston - und zog danach schnell genug nach New York, um 2015 ihre Band Big Thief zu gründen und alles wieder zu vergessen, was sie auf der Privathochschule gelernt hatte.

"Den Schülern dort wurde eingetrichtert: ,Seid originell! Findet eure eigene Stimme!'", erinnert sie sich. "Doch wenn Leute beim Musikmachen um jeden Preis versuchen, originell zu sein, ergibt das meist verkrampfte, verkünstelte Ergebnisse. Am weitesten kommt man, wenn man seine Vorbilder imitiert und dabei drauf vertraut, dass es am Ende umso mehr nach einem selbst klingt. So lernen Kinder ja auch sprechen."

"Songs and Instrumentals", die neue Platte, hat Lenker im Mai in einer Berghütte in New England aufgenommen, in die sie vor dem New Yorker Corona-Alltag sowie einem besonders sägenden Fall von Liebeskummer geflohen war. Dieses Mal hört man wirklich nur sie, ihre Vogelsingstimme und die Holzgitarre. Dazu den Regen auf dem Dach und die Insekten, die durch den Raum sausen. Auch hier ist die Introspektion wieder straff inszeniert, sind die lyrischen Bilder klar und oft erschreckend. Und es fehlt jede Koketterie mit vermeintlicher Publikumsnähe, die Sängerinnen und Sänger heute so gern schluchzend für sich einklagen.

Wenn überhaupt, dann zählt bei Lenkers Musik der Bezug zur Familienhistorie. "Die Geschichte der Unterdrückung von Frauen steckt in meinem Körper", sagt sie. "Meine Urgroßmutter, meine Oma, meine Mutter haben alle darunter gelitten und haben entsprechende Verhaltensmuster entwickelt, die auch mich als Kind geprägt haben." Sie sei die erste Frau in der Linie, die ohne Partner und Kinder ein zügellos kreatives Leben führen dürfe - und die mit ihrem Werk auch das Ziel verfolgt, den Vorfahrinnen und Mitverschwörerinnen späte poetische Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Deshalb die ganzen Frauengeschichten in ihren Texten, die Privatfotos auf den Plattenhüllen von Big Thief. Das "Songs and Instrumentals"-Cover zeigt ein Blumenaquarell, das ihre Großmutter Diane Lee gemalt hat. Man kann es in ihrem Online-Shop auch als Puzzle kaufen.

Dann beendet Lenker den Anruf, mit Bitte um Verständnis: Die Helfer für die Trailer-Bauarbeiten seien angekommen. Und man kapiert, was diese zutiefst seltsame Folkkunst-Nomadin so radikal von all den gut ausgeleuchteten Hobby-Roadtrippern unterscheidet: Adrianne Lenker scheint mit ihren Songs tatsächlich immer noch auf der Suche nach irgendetwas zu sein, vielleicht sogar auf der Jagd, und zwar ergebnisoffen. Wer sie und Big Thief hören will, muss sich bemühen hinterherzukommen.

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