Martin Mittelmeiers Buch "Freiheit und Finsternis":Teilnehmende Spurensuche

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Gibt es denn überhaupt kein Entrinnen vor der alles korrumpierenden Kulturindustrie? - Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. (Foto: picture-alliance / dpa (2))

Der Literaturwissenschaftler Martin Mittelmeier erzählt leicht, aber nie leichtfertig die Geschichte der "Dialektik der Aufklärung", Adornos und Horkheimers einflussreichstem Buch.

Von Thomas Meyer

"Aus dem, was da zustande kommt, soll rückwirkend der Sinn unserer früheren Arbeit, ja unserer Existenz erst deutlich werden." So schrieb Max Horkheimer am 29. November 1941 an den Literatursoziologen Leo Löwenthal. Beide gehörten dem 1933 aus Frankfurt zunächst nach Genf und dann in die USA emigrierten "Institut für Sozialforschung" an: Horkheimer als einer von zwei Direktoren, Löwenthal als ein zum engsten Zirkel gehörender Mitarbeiter.

Gemeinsam mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, einem weiteren Institutsangehörigen, hatte sich Horkheimer seit 1938 an etwas herangewagt, was offensichtlich auch der Aufklärung über die eigene intellektuelle Entwicklung dienen sollte. Die Schrift, die in dem Brief so emphatisch angekündigt wurde, war die im Entstehen begriffene und schließlich 1944 veröffentlichte Textsammlung "Philosophische Fragmente", die drei Jahre später in einer veränderten Fassung als "Dialektik der Aufklärung" im Amsterdamer Querido-Verlag erschien und damit ihren endgültigen Titel erhielt. Dass es auch dabei um "Philosophische Fragmente" handelte, betonte jetzt der Untertitel.

Aus welchen "Elementen" entstand der moderne Antisemitismus, und warum scheint er unbesiegbar zu sein?

Nun liegt mit dem Buch des Literaturwissenschaftlers Martin Mittelmeier eine gut lesbare Geschichte der Entstehung der "Dialektik der Aufklärung" vor. Wer Mittelmeiers Studie gelesen hat, der wird Lust bekommen, sich das vermeintliche "Jahrhundertbuch" genauer anzusehen. Die einen werden ans Regal gehen und ihr altes Exemplar rausziehen. Wie war das noch mal mit Odysseus, der angeblich bereits im Namen die Deutung seines Schicksals trägt? Was hat es mit der Aufklärung auf sich, die historisch notwendig immer in die Barbarei umschlägt? Welche Rolle spielen die angeblichen Vollender der Aufklärung Kant, de Sade und Nietzsche dabei? Aus welchen "Elementen" entstand der moderne Antisemitismus, und warum scheint er unbesiegbar zu sein? Gibt es denn überhaupt kein Entrinnen vor der alles korrumpierenden Kulturindustrie? Steckt hinter all dem der Kapitalismus? Ha!, wird so mancher ausrufen und sich an durchdiskutierte Nächte erinnern, die einfach sein mussten, schließlich war die "Dialektik der Aufklärung" im amerikanischen Exil zwar auf Deutsch verfasst worden, aber wer hätte sie je auf Anhieb verstanden? Die Arbeit am Satz, hier wird sie verlangt.

Nicht zu beneiden sind hingegen diejenigen, die angeregt durch Mittelmeiers mal erzählende, mal darstellende, zumeist aber analytisch vorgehende Studie in ihre Buchhandlung stürzen. Denn sie werden zwar die berühmte Unmenge an hervorragender Sekundärliteratur angeboten bekommen, doch die "Dialektik der Aufklärung" selbst ist ein Opfer allenfalls schlechter Dialektik geworden.

"Philosophische Fragmente": Titelblatt der ersten offiziellen, 1974 erschienenen Ausgabe der "Dialektik der Aufklärung" im Amsterdamer Verlag Querido. (Foto: Gemeinfrei)

Bei Suhrkamp, Adornos Hausverlag, ist sie als Band 3 seiner "Gesammelten Schriften" erhältlich, doch nicht als Einzelausgabe - man muss schon alles wollen, sonst bekommt man gar nichts. Wenn man 268 Euro hingeblättert hat, kann man dafür den enorm wichtigen, ursprünglich für die "Dialektik der Aufklärung" geschriebenen und erstmals von Gabriele Geml ("Adornos kritische Theorie der Zeit", Metzler-Verlag) klug analysierten Nachlasstext "Das Schema der Massenkultur" studieren, aber das war's auch schon.

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Auf das "Schema" müssen hingegen die Leser der Einzelausgabe beim Fischer-Taschenbuchverlag verzichten, dafür liefert ihnen Horkheimers Stammhaus einen klugen Anhang, der eine interpretierte Liste der Textänderungen in den diversen Ausgaben der "Dialektik" beinhaltet und zudem erläutert, was es mit dem Buch überhaupt auf sich hat. Doch ohne den von Gunnar Hindrichs orchestrierten Kollektiv-Kommentar (Akademie-Verlag), den Analysen von Helmut König zum "Antisemitismus"-Kapitel (Velbrück-Verlag) und dem Sammelband von Gunzelin Schmid Noerr und Eva-Maria Ziege (VS-Springer-Verlag) bleibt man trotz Mittelmeiers konziser Aufklärungsarbeit im Gestrüpp vieler Behauptungen von Horkheimer und Adorno hängen. Und wer ein Gegengift benötigt, weil er vor lauter Behauptungen in der "Dialektik der Aufklärung" an gar nichts mehr glauben mag, der lese Rainer Ensikats virtuose Abrechnung, die er vor zehn Jahren, na, wo wohl, in der Zeitschrift "Aufklärung" veröffentlichte. Danach sieht man klarer auf Adornos und Horkheimers Klassiker.

"Man lasse sich mit diesen harten Denkern nur ein, wenn man weder fest-gelegt noch fest-gefahren noch fest-bezahlt ist."

Das klingt ernüchternd, aber wie warnte schon die einzige Rezension, die die 1944er-Originalausgabe je erhielt? "Wer sich nicht entschließen kann, 300 Seiten zu studieren (nicht nur zu 'lesen'), lasse die Finger von diesem Band, der in keiner Beziehung Taschen-Format hat. Wer hofft, dass er nach der Lektüre klipp und klar sagen kann: wie ein Office gegen Barbarei (OGB) einzurichten ist - kaufe sich für die $5 lieber die gesammelten 'How to do it'. Man lasse sich mit diesen harten Denkern nur ein, wenn man weder fest-gelegt noch fest-gefahren noch fest-bezahlt ist - und tatsächlich bereit zum Wagnis des Nachdenkens."

Was Martin Mittelmeier bietet, ist dagegen eine teilnehmende Spurensuche, die die eingangs gestellten Fragen stets im Hinterkopf hat, der die persönlichen und beruflichen Irrungen und Wirrungen leicht, aber nie leichtfertig erzählt und der seine Helden vor Verehrern wie Gegnern in Schutz nimmt. Ein Buch, das auf das behandelte Buch Lust macht, zum Kauf von Adornos Gesamtausgabe anregt und auffordert, sich vielleicht doch in Horkheimers Gedanken zu vertiefen. Und in beiden Fällen bereit ist, in Abgründe zu blicken. Das ist etwas, das den zahlreichen echten und unechten Experten in Sachen Adorno/Horkheimer nun wirklich nur in den seltensten Fällen gelungen ist. Mittelmeier hingegen schon.

Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis - Wie die "Dialektik der Aufklärung" zum Jahrhundertbuch wurde. Siedler Verlag, München 2021. 318 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)
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