Süddeutsche Zeitung

Adolf Muschgs Roman "Aberleben":Glück und Ende

Identitäten gleiten ineinander, Romanfiguren inkarnieren auf den Metaebenen der Fiktion: Adolf Muschgs Alterswerk "Aberleben" protzt mit Komplexität.

Von Martin Ebel

Adolf Muschg ist 87, doch "Aberleben" ist kein Buch eines alten Mannes. Niemand erinnert sich verklärt an früher und verdammt das Heute. Nein, Muschg ist voll auf der Höhe der Zeit und ihrer Debatten. Kürzlich hat er sich bei einem Auftritt im Schweizer Fernsehen durch die Anwendung des "Unwortes Auschwitz" auf die Cancel Culture einen Shitstorm zugezogen, digital wie analog. In seinem neuen Roman kommt der Genderstreit vor, Transmenschen treten auf (natürlich Transmenschen eigener, muschghafter Art und Schöpfung), die Klimakatastrophe dräut, und am Ende mischt sich noch ein tödliches Virus ein.

Muschgs Held heißt Peter Albisser (wie der aus dem Roman "Albissers Grund", 1974), ist Schriftsteller wie sein Autor, aber viel jünger (gerade 70) und weniger erfolgreich. Er trifft allerdings immer wieder Menschen, die "ihn gelesen" haben, vor allem seinen Roman "Sutters Glück". Der stammt tatsächlich von Adolf Muschg selbst, geschrieben hat er ihn 2001, hat seinen Helden Sutter sterben und in "Die Japanische Tasche" (2015) wieder auferstehen lassen. Den Schriftsteller Albisser im neuen Roman lässt dieser Sutter, die Figur des gemeinsamen Schöpfers, nicht los, mehr noch dessen Frau Ruth, eine faszinierend unnahbare Person, die ihrem Krebstod zuvorkam, indem sie ins Wasser ging.

Albisser (im Roman meist kurz A.) verlässt seine Frau Henny - sie hatte, kleine Koketterie Muschgs, seine Bücher immer "schwer zu lesen" gefunden -, verlässt auch die Schweiz und geht nach Berlin, um dort "Sutters Ende" zu schreiben. Er mietet sich in der Akademie der Künste ein, deren Mitglied er ist (Muschg war 2003 bis 2005 ihr Präsident), trifft auf die Ex-Präsidentin Judith und wird mit ihr in eine Zweier-Kommission berufen, die die Akademiesatzung gendermäßig auf den neuesten Stand bringen soll.

A., zu seiner eigenen Romanfigur geworden, brennt mit deren Frau durch

Wir nehmen an einer Sitzung teil, in der ein US-amerikanischer Investor von seinem Projekt "Demise of Death" schwadroniert, wie also der Tod zu überwinden sei, mittels Krebszellen selbst oder durch die wundersamen Strategien des Nacktmulls. Auch die "biochemische Lektüre eines Gedichts" soll irgendwie dazu beitragen. Überhaupt ist in diesem Roman viel von Gedichten die Rede, sie werden rekapituliert und rezitiert und gehören ganz offensichtlich zur seelischen Grundausstattung des Personals.

A. begibt sich dann nach Sachsen-Anhalt, wo er eine "Laienpredigt" halten soll, und bezieht Quartier in der ehemaligen Mühle Aberleben, einst gegründet von einem wohlhabenden Schweizer, der dort eine Art Kommune unterhielt, paradiesische Zustände, weil es ihm gelang, "die Frauen miteinander verträglich zu machen" (dieser Halbsatz ist auch schon wieder shitstormträchtig). Die Predigt, die A. schreibt und die wir in extenso zu lesen bekommen, handelt von Judas, der das Jesuskind erst entführt und dann zurückbringt, weil er vor seinem Verrat noch eine gute Tat vollbringen wollte.

Sie ähnelt motivisch stark der Predigt des Vorjahres, die ein gewisser Ion Cabalzar gehalten hatte, auch Schweizer, auch Vormieter des A. in Berlin, insofern und irgendwie sein Doppelgänger. Cabalzar war einst Gehilfe bei den Experimenten des US-Investors, erkrankte dabei durch einen Virusunfall schwer, lebte schwerbehindert weiter und stürzte mit dem Flugzeug beim Mummelsee ab, vielleicht lebt er aber auch weiter in weiblicher Gestalt.

Dieser Roman ist kunstfertig auf höchstem Niveau, aber man kann des Guten auch zu viel tun

Ja, Männer und Frauen wechseln ihr Geschlecht, Identitäten gleiten ineinander. A. weiß längst nicht mehr, wer er selbst ist. Cabalzar ist vielleicht auch Mia, die Freundin und einstige Geliebte Hennys, die A. nie kennen gelernt hat, die ihm aber jetzt erscheint, im Rahmen einer "Amphitryon"-Aufführung im marokkanischen Essaouira, als Inkarnation seiner Romanfigur Ruth, die er einst erschaffen hatte, um seiner Mutter eine Sprache zu geben (auch die hatte sich ertränkt). Inkarnation, ach was: in Mia ist Ruth zum Leben erwacht, hat ihn zugleich als Dichter entmachtet, und A., seinerseits zu seinem Geschöpf Sutter geworden, schnappt sich seine Traumgestalt und brennt mit ihr durch.

Stopp, werden die Leser hier rufen, uns dröhnt der Kopf! Gemach, antwortet der Rezensent, das ist noch gar nichts gegen die Lektüre des Romans selbst. In dem tauchen alle paar Seiten neue Figuren auf, denen komplizierte Biografien angehängt werden, ausreichend für eigene Romane, aber zu gestaucht, um sich entfalten zu können. Wir verlieren sie dann ebenso aus den Augen wie A. seinen Romanplan, den Gendersatzungsauftrag, seine Krebserkrankung und manches mehr. Die genannten Figuren haben zwar einen Lebenslauf, aber kein Leben, sie bleiben Kopfgeburten des Autors, der sie überdies eine so gebildet-preziös-schlagfertige Dialogsprache führen lässt, wie sie kein Mensch auf Erden praktiziert, höchstens Muschg, wenn er sich mit sich selbst unterhält.

"So verbarg sein Können die Kunst", heißt es in dem Ovid-Zitat, das Muschg seinem Roman als Motto vorangestellt hat. Ja, dieser Roman ist kunstfertig auf höchstem Niveau, er ist anregend, verwirrend und auf produktive Weise irritierend, aber man kann des Guten auch zu viel tun. Zu viel der Themen, Einfälle, Zitate, Verweise, der Repliken und Kalauer. Zu viel "Aftermuse", wie Muschg oder sein Alter Ego Albisser es selbst nennt. Zu viel Klugheit, die zur Klügelei wird. "Wer keine Bahn hat, kann auch aus keiner geworfen werden", lesen wir. Oder "dass Zeit totschlagen auch eine Art ist, ihren Schlägen zu entgehen." Oder: "Was durch die Maske spricht, ist eine Ahnung, was der Mensch sein könnte, wenn er wäre, was er ist." Figurenrede oder Autorenweisheit, alles eins.

Muschgs Lieblingsgedanke von den Sätzen, die nur wahr sind, wenn es auch ihr Gegenteil ist, kehrt auch hier wieder und verbindet sich mit den Entdeckungen der Quantenphysik, dass ein Teilchen hier, aber auch dort sein kann, und dass es zugleich sein und nicht sein kann. In diesem Sinne ist "Aberleben" ein quantenphysikalischer Roman, und man muss wohl das Gehirn eines Einstein oder Niels Bohr oder eben Adolf Muschg haben, um ihm ganz gerecht zu werden.

Vielleicht werden kommende Generationen Muschgs Spätstil - den man ab der "Kinderhochzeit" 2008 datieren kann - einmal zu den großen Hervorbringungen der deutschsprachigen Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts zählen, wer weiß. Der Tageskritiker kann nur auf die nächste, seiner Aufnahmefähigkeit zukömmlichere Wiederbelebung des Romanhelden Sutter hoffen. Muschg ist sicher noch nicht fertig mit ihm.

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