An einem Oktobermorgen im Jahr 2003 versenkt sich eine junge Palästinenserin in die israelische Tageszeitung Haaretz. Als sie wieder aufschaut, ist sie eine andere geworden. Detailgenau recherchiert dokumentiert da ein israelischer Journalist die Massenvergewaltigung einer palästinensischen Beduinin, ein Mädchen noch, durch israelische Soldaten der IDF am 13. August 1949. Beides, Tat und Artikel sind die thematische Klammer des Romans "Eine Nebensache" von Adania Shibli. Beides, die Tat und der Enthüllungsartikel, sind keine Erfindungen, es hat sie gegeben.
Als die Palästinenserin im Roman von der Vergewaltigung liest, fesselt sie ein Detail, ein nebensächliches. Der Missbrauch und der anschließende Mord haben sich auf den Tag genau 25 Jahre vor ihrer Geburt ereignet, nun, über 50 Jahre später, liest sie davon und beschließt, der Geschichte nachzugehen. Sie will, wie es heute so oft prosaisch gesagt wird, der Namenlosen eine Stimme geben.
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Über Adania Shibli ist in Deutschland wenig bekannt, so wie die palästinensische Literatur im Allgemeinen hierzulande eher wenig Beachtung findet, was dringend zu ändern ist. Aber, da beginnt schon das Eingrenzungsproblem, was ist das überhaupt, die palästinensische Literatur, von wem wird sie geschrieben, von denen in der Diaspora, von den amerikanischen Palästinensern etwa, oder von jenen aus der Westbank und dem Gazastreifen, oder doch von denen, die in Israel leben und als arabische Muslime oder Christen immerhin 20 Prozent der Bevölkerung des Staates ausmachen? Auch ist die palästinensische Literatur schwer zu vermessen, weil sie so polyglott ist. Die großen Alten, Mahmoud Darwish oder Emil Habibi, schrieben auf Arabisch. Anders Sayed Kashua, einer der bekanntesten Schriftsteller unter den arabischen Israelis, der seine Romane auf Hebräisch verfasst und kürzlich das Land in Richtung Amerika verließ, wie er sagte aus Protest gegen die erdrückende politische Lage. Aber auch Romane, die auf Spanisch geschrieben werden, müssen dazu gezählt werden, etwa "Heimkehr ins Unbekannte" von Lina Meruane, deren Familie aus Beit Jala in der heutigen Westbank nach Chile emigrierte, dem Land mit der größten palästinensischen Minderheit außerhalb des Nahen Ostens.
Details erzeugen Aufmerksamkeit, sie sind die Bedingung für Hinwendung und Interesse
Die Autorin Adania Shibli spricht sechs Sprachen, lebt in drei Ländern, ihre Familiengeschichte zieht sich historisch durch vier Regionen und Nationen, das Osmanische Reich, das britische Mandat, die Westbank, Israel. Adania Shibli ist damit vielleicht eine typische Diaspora-Palästinenserin aus dem Bildungsbürgertum, die immer wieder zurückkehrt in das Gebiet ihrer Geburt. Regelmäßig unterrichtet sie an der palästinensischen Bir-Zait Universität in der Nähe von Ramallah. Dass sie ebenso wie die namenlose Protagonistin ihres Romans 1974 geboren wurde, dass auch sie einst in Ramallah lebte, ist nur ein weiteres Detail, denn hier geht es nicht um autobiografische Detektivspiele. Es geht um die heute umso aktuellere Frage: Warum ist uns in manchen Momenten das Schicksal Einzelner so nah, wieso zieht es in anderen an uns vorbei? "Es mag fürchterlich selbstverliebt klingen, dass mich an dem Vorfall ausgerechnet dieses nebensächliche Detail fesselte, zumal die übrigen Details des Vorfalls als rundheraus tragisch zu bezeichnen sind", bekennt die Erzählerin einmal. Doch sie schämt sich grundlos. Details erzeugen Aufmerksamkeit, sie sind die Bedingung für Hinwendung und Interesse.
Der erste Teil von "Eine Nebensache" dokumentiert in frostiger Nüchternheit die letzten drei Tage im Leben der namenlosen Beduinin. Alles daran ist schwer auszuhalten. Die Distanz etwa, die sich aus der Erzählstimme ergibt, die sich an einen der Täter anschmiegt. Der Offizier der Einsatztruppe, auch er bleibt namenlos, wird in der Nacht bevor seine Einheit auf die Beduinengruppe stößt, von einem Tier gebissen, vermutlich einem Skorpion. Von da an erlebt er das Geschehen im Delirium. Die eiternde Wunde, die er vor seinen Untergebenen versteckt, die flirrende Hitze und die Ödnis der Negev-Wüste, den alles durchdringenden Staub, die destruktive Machtlust seiner Soldaten. Schließlich wird er selbst zum Täter. "Er warf sich auf sie und suchte mit der Hand ihren Mund, um ihn ihr zuzuhalten. Sie biss fest zu, er zog seine Hand weg und vergrub die andere in ihren Haaren."
Shibli verzichtet in ihrer Erzählung auf den historischen Rahmen, verliert kein Wort über das Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten, das zu dieser Zeit gerade ausgehandelt worden war, sie umtanzt damit das immer auch falsche Wort "Kriegsverbrechen". Nur einmal heißt es aus dem Mund des Offiziers, seine Einheit sei mit dem Ziel in der Wüste stationiert, die Südgrenze zu Ägypten abzusichern und die Wüste von "Verbliebenen zu säubern". Der erste Teil des Romans endet mit dem Mord an der Beduinin, und wäre es dabei geblieben, müsste man Shibli vorwerfen, sie hätte ein furchtbares Leid literarisch ausgeschlachtet.
Edward Said, der Diaspora-Palästinenser und frühe Theoretiker des Postkolonialen, hat sich 1986 einmal in einer Definition von palästinensischer Literatur versucht. Sie klingt in etwa so: Palästinensische Literatur ist formal instabil, sie versucht mit der "nahezu metaphysischen Unmöglichkeit umzugehen, die Gegenwart zu repräsentieren". Palästinensische Literatur, so fügt er hinzu, das sind fragmentarische Kompositionen, "in denen die Erzählstimme über sich selbst stolpert, über ihre Verpflichtungen, ihre Begrenzungen". Edward Said schrieb das, lange bevor Adania Shibli zur Schriftstellerin wurde. Aber dass im zweiten Teil des Romans die Ich-Erzählerin unterspült wird von historischer Verpflichtung und gegenwärtiger Begrenzung, ist zutreffend. Ihre Verpflichtung? Zu verhindern, dass die Ermordete namenlos auf dem Müllberg der Geschichte landet: "Das Mädchen war und bleibt bis in alle Ewigkeit ein Niemand, und niemand wird je ihre Version der Ereignisse erfahren." Ihre Begrenzung? Mit dem palästinensischen Pass ist sie immobil, im internationalen Vergleich rangiert das Ausweisdokument der Westbank neben dem afghanischen oder dem syrischen unter den "schlechtesten" der Welt, also denen, die nahezu keine Visumsfreiheit haben.
Die Suchende besorgt sich den israelischen Ausweis einer Kollegin, mit dem eigenen müsste sie am Checkpoint gleich wieder umkehren. Die palästinensische Version eines Roadtrips: Illegal, mit geliehenem Pass also und geborgtem Auto, und hingestottertem Hebräisch, geht es der jungen Frau nicht um die abenteuerliche Erkundung der Weite, sondern um die Entdeckung einer Region gleich hinter der Mauer, nur zehn bis hundert Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. Auf dem Beifahrersitz liegen zwei Landkarten, eine prä- und eine post-48er. Das Hafenviertel von Tel Aviv mit seinem Zentralarchiv der israelischen Armee ist ihre erste Anlaufstelle, sie nennt den Teil der Stadt arabisch "Jaffa", statt hebräisch "Yafo". Ein bisschen vertun kann man sich mit diesen Bezeichnungen nur als Touristin. Adania Shibli aber skizziert hier mit leichter Hand und beiläufig einen Krieg auch der Benennungen zweier so verwandter semitischer Sprachen.
Dass im konfliktgewöhnten Israel keine Handlung ohne implizite Botschaft, kein phänotypisches Merkmal oder Kleidungsstück ohne religiöse oder ethnische Kategorisierung davonkommt, das ist eine Lektion, die "Eine Nebensache" erteilt. Ein unbedachter Griff in die Tasche, die Suche nach einem Kaugummi, mag für das Gegenüber aussehen wie das Ziehen einer Waffe. Adania Shiblis Roman endet nicht versöhnlich, er endet mit einer folgenschweren Missdeutung einer Nebensache.
Adania Shibli war mit der englischen Übersetzung von "Eine Nebensache" im vergangenen Jahr für den International Booker Prize nominiert, ins Deutsche hat Günther Orth die knifflig offene Semantik des Arabischen vorzüglich übertragen. Dies ist nur ein erster Schritt, Shiblis andere Romane, etwa das schmale Büchlein aus dem Jahr 2010, das in der englischen Version "Touch" heißt, warten auf eine Übersetzung. Inmitten der lauten und polarisierenden Stimmen, die den Nahostkonflikt umgeben, ist Shibli eine leise, eine suchende, eine präzise Detailbeobachterin. Ihr möchte man gern mehr zuhören. Es ist ein Glück, dass Literatur keine politischen Analysen liefern muss, aber Einzelschicksale zeigen kann. Und das ist aus "Eine Nebensache" zu lernen: Jeder politische Konflikt, ob geografisch nah oder fern, erzeugt Leben, die, schon bevor sie richtig beginnen, an ihre eigene Grenze stoßen.