Napoleon-Biografie:Als wäre man dabei gewesen

'Napoleon at Fontainebleau During the First Abdication - 31 March 1814', (1845). Artist: Paul Delaroche

Vorläufiges Ende: Napoleon bei der Abdankung in Fontainebleau im April 1814, gemalt von Paul Delaroche im Jahr 1845.

(Foto: dpa Picture-Alliance / Art Media)
  • Rechzeitig zu Napoleons 250. Geburtstag, an den 2019 zu erinnern ist, erscheint eine neue umfangreiche Biografie.
  • Adam Zamoyski fügt reportageartig und mosaikhaft Augenzeugenberichte und Anekdoten zu einer farbigen Chronik zusammen.
  • Seine detailreiche Schilderung vernachlässigt jedoch größere historische Zusammenhänge.

Von Gustav Seibt

Als Napoleon auf der Rückreise vom russischen Kriegsschauplatz in den frühen Morgenstunden des 14. Dezember 1812 nach Dresden gelangte, wollte er den verbündeten sächsischen König sehen. Friedrich August, so erfahren wir, "kleidete sich hastig an und ließ sich in einer Sänfte zur Residenz des französischen Botschafters tragen". Vier Tage später war der Kaiser der Franzosen schon in Paris, seine Kutsche "rollte in den Hof der Tuilerien ein", und Napoleon schritt, "obgleich man ihn, unrasiert und in seinem dicken Mantel kaum erkennen konnte", "zügig" in die Gemächer seiner Gemahlin, der Kaiserin Marie-Louise.

Wer die neue umfangreiche Biografie Napoleons liest, die Adam Zamoyski pünktlich zum 250. Geburtstag vorgelegt hat, an den 2019 zu erinnern ist, der wird mit Tausenden solcher Details beschenkt. Zamoyski ist ein blendender Erzähler, das hat er vor allem in seinem Buch über Napoleons Russland-Feldzug von 1812 bewiesen, dessen katastrophalen Verlauf mit seinen ebenso blutigen wie sinnlosen Schlächtereien, dem Brand von Moskau und dem Rückzug durch die Eishöllen des Winters er bis an die Grenzen des Erträglichen vergegenwärtigt hat. Nun versucht er, sein reportageartiges, mosaikhaft Augenzeugenberichte zusammenfügendes Erzählverfahren auf die ein halbes Jahrhundert überspannende Zeitstrecke von Napoleons Leben anzuwenden.

Nichts dankbarer und leichter als eine Napoleon-Biografie

"Ein Leben", so heißt der Untertitel, und er ist zutreffend. Denn man könnte eine Napoleon-Biografie natürlich auch als Epochendarstellung anlegen, die all die Prozesse einbezieht, deren Produkt er war und die er selbst in Gang setzte. Doch das tut Zamoyski nicht. Stattdessen schreibt er eine farbige Chronik, entlang am Verlauf der Jahre, fast annalistisch. Die Zeit diktiert die Disposition des Stoffs, der kaum nach Sachgesichtspunkten geordnet wird. So erlebt der Leser parallel zu Napoleons italienischen Feldzügen seit 1796 die Wirren seiner jungen Ehe mit Joséphine, in denen die frischvermählte Generalin sich als ausgebuffte Ehebrecherin zeigt. Mars und Venus, so würde man das in altmodischen Geschichtsromanen pointieren, wechseln einander ab, ein wenig wie die Figuren eines Wetterhäuschen, die abwechselnd heraustreten und zurückgehen.

In gewisser Weise ist nichts dankbarer und leichter als eine Napoleon-Biografie. Die Dokumentation ist überreich, in Memoiren, Briefen und offiziellen Dokumenten, dazu kommen Fluten von Bildern. Wer das chronologisch anordnet und sich jeweils das Farbigste herauspickt, der hat schon gewonnen. Es gibt nichts Uninteressantes. Bei den öffentlichen Feiern der Kaiserkrönung im Dezember 1804 regnete es so stark, dass die Ehrengäste bei klirrender Kälte auf durchweichten Samtpolstern ausharren mussten, um die Huldigungen der Paraden entgegenzunehmen: Es ist, als wäre man dabeigewesen.

Das erste kleine Problem bei solcher Benutzung von Farbtöpfen der Überlieferung ist die Quellenkritik. Zamoyski verwendet neben Briefen und Dekreten sehr großzügig die überreiche Memoirenliteratur. Kaum ein General oder Sekretär oder Hofdame, die nicht ihre Erinnerungen an Napoleon zu Papier und in den Buchhandel gegeben hätten. Wer das in Zeitschnipsel stückelt, erhält für jeden Zeitpunkt passendes Anekdotenmaterial, schmissige Spruchweisheiten, die sich mit dem Dröhnen der offiziellen Verlautbarungen gegenschneiden lassen, um eine Atmosphäre überlegener Ironie zu erzeugen. Der Kaiser strahlt in der Sonne von Austerlitz, aber seine Reisechaise mit eingebautem Büro verfügt auch über einen Nachttopf. Leider ist nicht jede Anekdote glaubwürdig, mancher Spruch zu gut erfunden, um wahr zu sein.

Im tiefsten Winter brauchte Napoleon nur vier Tage von Dresden nach Paris

Trotzdem sollte der Erkenntnisreiz dieses reihenden und veranschaulichenden Verfahrens nicht voreilig gering geschätzt werden. Es vermittelt etwas von der Rastlosigkeit dieser Ära und des sie antreibenden Mannes. Das Telegrafensystem und die Reiterstafetten, die quer durch Europa reichten, sind ein historischer Faktor. Dass der Kaiser im tiefsten Winter von Dresden bis Paris nur vier Tage brauchte und dabei in seiner Rüttelkutsche wohnen konnte, beschreibt eine Herrschaftsweise, die potenzielle Allgegenwart suggeriert. Und schön zu lesen ist das unbedingt.

Etliche Irrtümer im Detail verraten allerdings, dass auch die Verfertigung des Buches mit napoleonischer Geschwindigkeit vonstatten ging: Nein, die Habsburger haben sich nicht erst 1745 auf den deutschen Kaiserthron gesetzt, und nein, Napoleon hat die Berliner Quadriga nicht als wertloses Eisenblech verschmäht, er hat das in Kupfer getriebene Meisterwerk Schadows vom Brandenburger Tor abschrauben und nach Paris verschleppen lassen - mit verheerender psychologischer Wirkung auf die Preußen.

Zamoyskis Erzählerposition fehlt die Übersicht

Das Hauptproblem von Zamoyskis ganz auf Chronologie, Anschauung und Napoleons engere Lebensumstände gerichtete Perspektive ist die fehlende Übersicht. Seine Erzählerposition ist, um ein Gleichnis von Vladimir Nabokov zu bemühen, die einer fliegenden Untertasse, die im immer gleichen Höhenabstand über die Sanddünen der Information saust. Das Flugobjekt geht nie über eine bestimmte Mindesthöhe hinaus, längere Linien, Sachzusammenhänge, objektive Bedingungen kommen kaum in den Blick. Zur Sprache gebracht werden sie bestenfalls in der subjektiven Perspektive des Protagonisten.

Theodor Fontane rühmte an Herman Grimms biografischen Goethe-Vorlesungen als Hauptvorzug "Fülle, Überblick und infolge dieses Überblicks die Möglichkeit unängstlicher Dispositionen". Unängstliche Dispositionen hat Zamoyski gar nicht, sein Werk gleicht über lange Passagen einem mit weltmännischer Herablassung kommentierten Terminkalender. Auch diese Ironie kommt aus der Nahsicht, die oft kaum von der des berühmten Hegelschen Kammerdieners zu unterscheiden ist. Der große Mann ist oft eckig und ungeschickt, unbeherrscht und sprunghaft, in der Sicht einander permanent widersprechender Zeitgenossen mal unberatbar verstockt, man erstaunlich offen und zugewandt.

Abwägung von Bedingungen, gar systemische Zwänge tauchen nur in der Form eigener Reflexionen des Helden auf. Da dieser als Stratege auch ein überlegener politischer Analytiker war, ist das schon eine ganze Menge. Dass er sich anders als die legitimen Monarchen der alten Dynastien keine Niederlagen erlauben könne, dass er zu Erfolg und Ruhm verdammt sei, hat Napoleon vor allem gegen Ende seiner Herrschaftszeit immer wieder gesagt. Die Nachwelt spricht seit Langem von Bonapartismus, von charismatischer Herrschaft.

Die Biografie zeigt zu viel und erklärt zu wenig

Historische Wissenschaft müsste fragen, ob dieser Zwang zum Immmervorwärtsstürmen, der Napoleon vor allem im Winter 1812 beim verspäteten Rückzug aus Russland zu verheerenden Fehlern veranlasste, wirklich unvermeidlich war. War die Friedenssehnsucht im erschöpften Kontinent nicht längst größer? Unängstliche Dispositionen hätten auch zu allgemeineren Begriffen und grundsätzlicheren Fragen führen können, wie sie schon von klugen Zeitgenossen wie Gentz und Metternich gestellt wurden.

Die fehlende Übersicht führt gelegentlich in die bare Unverständlichkeit - wie Napoleon zum Entschluss kam, sich zum Herren Frankreichs zu machen, überhaupt die undurchsichtigen Vorgänge um den 18. Brumaire, das bleibt weitgehend dunkel. Zamoyski zeigt eifrig, wie Napoleons Selbstdarstellungen in seinen Bulletins eigentlich immer übertrieben und geradezu lügenhaft waren. Die Frage, die sich daran anschließt, warum sie doch wirkten und wie der Feldherr und Kaiser zu der gläubigen Verehrung bei seinen Soldaten kam, wird dadurch allerdings nur rätselhafter.

Die planvolle Erzeugung eines Mythos - etwa durch Parallelen zu Karl dem Großen - erscheint als Marotte eines durchdrehenden Gewaltherrschers. Dass der Kaiser seit seiner Verheiratung mit der Habsburgerin Marie-Louise von Ludwig XVI., dem König, den die Revolution geköpft hatte, als seinem "Onkel" sprach, ist nicht lächerlich, sondern die Antwort auf ein reales Problem, nämlich die Traditionslosigkeit einer postrevolutionären Herrschaft. So wird von diesem farbigen, leicht lesbaren, kostümfilmhaften Buch paradoxerweise derjenige am meisten haben, der einen deutlichen Begriff von Napoleon als welthistorischer Figur schon besitzt, der allgemeinere Fragen an diese Gestalt schon stellen kann. Für Anfänger ist es zu einfach, weil es zu viel zeigt und zu wenig erklärt.

Adam Zamoyski: Napoleon. Ein Leben. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Verlag C.H. Beck, München 2018. 863 Seiten, Abb., 29,95 Euro.

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