Adam Tooze' Sachbuch "Die Welt im Lockdown":Getrieben und gefangen

Adam Tooze' Sachbuch "Die Welt im Lockdown": Adam Tooze, geboren 1967 in London, ist ein britischer Wirtschaftshistoriker. Seit 2015 lehrt er an der Columbia University in New York.

Adam Tooze, geboren 1967 in London, ist ein britischer Wirtschaftshistoriker. Seit 2015 lehrt er an der Columbia University in New York.

(Foto: Alamy / Iain Masterton/mauritius images)

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze unternimmt in "Die Welt im Lockdown" den halsbrecherischen Versuch, die Geschichte der Corona-Krise zu erzählen, während sie sich ereignet.

Von Daniel-Pascal Zorn

Wenn es eine Erfahrung gibt, die das Leben in den Corona-Jahren 2020 und 2021 beschreibt, dann ist es die Erfahrung, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Abgeschnitten von sonst normalen sozialen Kontakten, oft sogar von der eigenen Familie, eingeschränkt durch Maßnahmen, deren Zweck noch wesentlich abstrakter ist als der bloße unmittelbare Schutz der Gesundheit, wird einem der radikale Innenraum des eigenen Lebens schlagartig bewusst.

Die notorische Unsicherheit der Pandemie umstellt diesen Innenraum mit Fragezeichen, lässt das Normale zur Ausnahme werden, die sonst gewohnten Sicherheiten wanken. Doch anders als es der auf nationale Deutungsrahmen festgelegte Blick der Medien und noch mal anders als es die gegen die jeweiligen Regierungen gerichteten Proteste und ihre Verschwörungsnarrative suggerieren, handelt es sich bei dieser Erfahrung um eine, die man mit Milliarden Menschen weltweit teilt: eine wahrhaft globale Größenordnung der radikalen Innensicht.

Die "Welt im Lockdown", so der Titel des neuen Buchs von Adam Tooze, ist nicht nur ein Buch, dass von der Reaktion der Welt auf die Pandemie erzählen will. Es ist auch eine radikale Innenansicht dieser Welt, die durch die Corona-Pandemie auf sich selbst zurückgeworfen wird. Der britische Wirtschaftshistoriker mit deutschen Wurzeln hat sich auf den Zusammenhang spezialisiert, der Krisen und Transformationen miteinander verbindet.

"Wollen wir Schritt halten, müssen wir rennen, um stillzustehen."

Wie wirken Macht, Politik und Wirtschaft zusammen? Welche Möglichkeiten ergeben sich in Krisen, deren Bekämpfung "getrieben" ist "von der Dinglichkeit der unmittelbaren Situation" und die zugleich "gefangen" sind "in einem Geflecht von Interessen", die sich "ihre Instrumente während ihres Tuns selbst zusammenstellen" müssen? Die Ökonomie des Nationalsozialismus, die Wirtschaftskrise 1929, aber auch die wirtschafts- und finanzpolitische Wende der krisenhaften Siebziger hat er auf das Getrieben- und Gefangensein hin untersucht und offengelegt, wie Krisen und daraus erwachsene Chancen Geschichte machen.

Doch all das sind historische Themen, die wenigstens 40 Jahre in der Vergangenheit liegen. Die Besonderheit von "Welt im Lockdown" ist, dass es den Blick auf eine Krise richtet, während sie geschieht. Es ist eine Art teilnehmender Beobachtung, mit der Tooze die Corona-Krise zwischen Januar 2020 - als die Krankheit der Welt bekannt wurde - und Januar 2021 - der Amtseinführung von Präsident Joseph Biden in den USA - in den Blick nimmt. Diese unbedingte Situiertheit der Beschreibung, die in einer paradoxen Bewegung eine Art unmittelbare Geschichtsschreibung vollzieht, interessiert sich mehr für Verflechtungen als für große Linien.

Adam Tooze' Sachbuch "Die Welt im Lockdown": Adam Tooze: Welt im Lockdown - Die globale Krise und ihre Folgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck, München 2021. 408 Seiten, 27 Euro.

Adam Tooze: Welt im Lockdown - Die globale Krise und ihre Folgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck, München 2021. 408 Seiten, 27 Euro.

Auch hier sind "getrieben" und "gefangen" die beiden Vokabeln, die Thema und Vollzug der Darstellung nachhaltig bestimmen. Es ist der einzigartige Versuch, die Komplexität einer sich während des Schreibens entfaltenden Krise zu erfassen und dabei den Überblick zu behalten: "Wollen wir damit Schritt halten", schreibt Tooze pointiert im Schlussteil des Buches, "müssen wir rennen, um stillzustehen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir befinden uns in medias res."

Dennoch zeigen sich bei aller Komplexität Fluchtpunkte, die vor allem durch das Interesse des Wirtschaftshistorikers Tooze vorgegeben sind. Einer dieser Fluchtpunkte betrifft die sich verändernde Rolle der Zentralbanken, die im Frühjahr 2020 den taumelnden Markt für Staatsanleihen durch massive Ankäufe gestützt und so Schlimmeres verhindert haben. Die oft beschworene Selbstreferenzialität des globalen Finanzsystems hat ironischerweise dafür gesorgt, dass es sich stabilisiert: Die Regierungen machten Schulden, ihre Zentralbanken kauften sie.

Nötig war das nicht nur, um den notorisch instabilen Finanzmarkt auf Kurs zu halten. Um den wirtschaftlichen Schaden der Pandemie zu kompensieren, legten vor allem die reichsten Staaten der Welt beispiellose Konjunktur- und Rettungspakete auf. Die Federal Reserve, die amerikanische Zentralbank, agierte dabei, so Tooze, seltsam getrennt von der Welt der Trump-USA, die sich - eine weitere Selbstreferenzialität - in immer neuen populistischen Schleifen mit sich selbst beschäftigte.

Was aus der einen Perspektive wie eine Lösung von Problemen erscheint, erzeugt aus einer anderen Perspektive neue

Der zweite Fluchtpunkt betrifft den Aufstieg Chinas. Die Politik der USA aus dem 20. Jahrhundert, in der sich Rechtspopulisten und kapitalistische Funktionseliten gegenüberstehen, trifft hier auf Entwicklungsdynamiken des 21. Jahrhunderts. Dem Erfolg Chinas bei der Bewältigung der Corona-Krise, der Globalisierung chinesischer Impfstoffe, der massiven Unterstützung der Entwicklungs- und Schwellenländer, der Vorreiterrolle auch beim Strukturwandel zur Klimaneutralität steht bei Tooze das Versagen der USA und Europas gegenüber, deren demokratische Regierungen sich zu spät auf Lockdowns einigten und beim Krisenmanagement einer globalen Pandemie kläglich versagten.

Die einfachen Linien ideologischer Vorurteile verwischen beim näheren Hinsehen: China ist der effizientere kapitalistische Staat, eine aufstrebende Weltmacht, die auch die EU dazu nötigt, sie als gleichwertigen Partner anzuerkennen. Die USA, in denen der "corporate liberalism" einem Bündnis aus reaktionären Großkapitalisten und enttäuschten Arbeitern gegenübersteht, sich einstmals linke mit ganz rechten Phrasen vermischen, können in China nur eine Spiegelung der Sowjetunion erkennen.

Doch diese Fluchtpunkte sind wirklich nur in Konturen erkennbar, zumal sich der Historiker Tooze alle Mühe gibt, seine Darstellung immer wieder dialektisch zu brechen. Was aus der einen Perspektive wie eine Lösung von Problemen erscheint, erzeugt aus einer anderen Perspektive neue. Tooze verweigert dem Leser bei aller erkennbaren Zuspitzung und Parteinahme - etwa gegen Trumps Politik oder zugunsten der chinesischen Interventionen in die Weltwirtschaft - das einfache Urteil und verschweigt weder die Erfolge Trumps noch den massiven autoritären Charakter chinesischer Entscheidungen. Das macht die Lektüre nicht immer ganz einfach, zumal Tooze in der zweiten Hälfte des Buches mehr als einmal den Fokus auf die Corona-Krise aus den Augen verliert. Der englische Untertitel ist da deutlicher: "How Covid Shook the World's Economy". Es geht, heißt das, nicht nur um die Reaktion der Weltwirtschaft auf Corona, sondern vor allem um den weltwirtschaftlichen Rahmen, in dem diese Krise sich ereignet.

Das Problem der Echtzeitgeschichtsschreibung ist: Die Urteile lassen sich nicht zuspitzen

In solchen Passagen wähnt man sich in einer nicht unangenehmen, aber doch seltsam einseitigen Situation. Es ist, als würde man mit Adam Tooze zu einem nicht enden wollenden Kneipengespräch zusammensitzen, in dem er einem alles erzählt, was ihm zum Thema Corona und Weltwirtschaft einfällt. Um Corona geht es unmittelbar vor allem im ersten Teil, in dem sich die Darstellung in einer repetitiven Aufzählung der Reaktionen verschiedener Länder auf die Krise erschöpft, sowie in den Passagen, die im vierten Teil den "Wettlauf um den Impfstoff" zwischen humanistischer Mission, Big Pharma und Profitinteressen beschreiben.

Darin zeigt sich ein Problem der Echtzeitgeschichtsschreibung, wie Tooze sie versucht: Die Urteile lassen sich nicht zuspitzen, Reaktionen sind "nicht wirklich ... mangelhaft", aber "angesichts einer sich schnell ausbreitenden Pandemie ... katastrophal unzureichend". Der Kontrast geht verloren, wenn man Komplexität darstellen will und die Darstellung zugleich als an allen Stellen revidierbar anlegt. Dabei ist die Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven beeindruckend: Die Kapitel bieten Crashkurse über die Rolle der Zentralbanken, den Markt für Staatsanleihen, die Coping-Strategien der Schwellenländer, die nationale Krise der USA, die Geschichte der Impfstoffentwicklung und die - oft, aber nicht immer klugen - strategischen Entscheidungen Chinas. Was sie nicht bieten, ist eine Geschichte.

Tooze lässt am Ende offen, ob das nur an der Art seiner Darstellung liegt oder ob die Welt selbst dabei ist, sich der Funktion ihrer bisherigen Geschichte zu entledigen. Der anachronistische Rückschritt ins 20. Jahrhundert, den die USA vollziehen, legt das nahe. "Die Intellektuellen des chinesischen Regimes", schreibt Tooze im Schlussteil des Buches, "arbeiten an ihrer eigenen Version der Geschichte. An dieser Geschichte sind wir alle beteiligt, ob wir wollen oder nicht." Im radikalen Weltinnenraum haben sich Kapitalismus und Kommunismus zu einer neuen Geschichte verflochten. Die Frage ist, ob wir wollen, dass sie zu unserer Geschichte wird.

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