In eigener Sache:Gegendarstellung

Lesezeit: 5 min

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Sie schreiben in der "Süddeutschen Zeitung" vom 23.2.2021 auf www.sueddeutsche.de unter der Überschrift "Mob-Reflex ´21" in Bezug auf den von mir betriebenen Blog www.nollendorfblog.de:

"Und - wie es der Nollendorfblog von Johannes Kram fordert - Kegel soll ab sofort keine Machtpositionen als Jurorin von Literaturpreisen (und in der Konsequenz des Gedankengangs als Feuilletonleiterin) mehr innehaben."

Hierzu stelle ich fest:

Ich habe auf dem Nollendorfblog nicht gefordert, dass Frau Kegel ab sofort keine Machtpositionen als Jurorin von Literaturpreisen mehr innehaben soll.

Berlin, den 27.2.2021

Unterzeichnet Johannes Kram

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#actout und die Folgen

Mob-Reflex '21

Weg mit der Frau, oder es knallt: Wie ein eigentlich harmloses Kulturforum der SPD aus den Fugen gerät, weil die FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel sprechen soll. Und was das über den Stand der Debattenkultur aussagt.

Von Andrian Kreye

Am Sonntagnachmittag eröffnete der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman die Münchner Zukunfts- und Zeitgeistkonferenz DLD mit einer Vorstellung seines neuen Buches "Noise", in dem er gemeinsam mit seinen Kollegen Cass Sunstein und Olivier Sibony den Unterschied zwischen "Noise" (Störungsmuster) und "Bias" (Vorurteile) in Entscheidungsprozessen herausarbeitet. Ähnlich wie in seinem Bestseller "Schnelles Denken, langsames Denken" hebelt Kahneman grundsätzliche Betriebsfehler in Denkprozessen auf. Als Wirtschaftswissenschaftler führt er in "Noise" Beispiele aus der amerikanischen Justiz, dem Versicherungswesen und den Personalabteilungen großer Firmen an.

Was die drei im Subtext des Buches (das in Deutschland am 17. Mai im Siedler-Verlag erscheinen wird) auch abliefern, ist eine Analyse der aktuellen Debattenkultur - die am vergangenen Wochenende in ihrer fiesen amerikanischen Form auch in Deutschland an Virulenz gewann. Weil sich der Fall um Begrifflichkeiten im deutschen Feuilleton dreht, ist er zur Erläuterung von Kahnemans Theorie in einem deutschen Feuilleton deswegen sehr viel griffiger als das amerikanische Versicherungswesen.

Der Titel lautete: "Kultur schafft Demokratie". Soll man lachen?

Die Kollegin Sandra Kegel, Leiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat derzeit Ärger. Mit einem Kommentar zum Manifest der #actout-Initiative, das am 4. Februar im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien, hat sie den Zorn von Menschen und Verbänden auf sich gezogen, die den Kampf der LSBTI-Bewegung selbst kämpfen oder ihn zumindest als aktuelle Frontlinie der Bürgerrechtsbewegung betrachten.

Das eskalierte nun bei einem Jour fixe, den die Grundwertekommission der SPD gemeinsam mit dem Kulturforum der Sozialdemokratie seit Januar einmal im Monat unter dem Titel "Kultur schafft Demokratie" veranstaltet. Gefolgt von einer Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbandes LSVD, die Kegels Auftritt nach ihrem Text als Beweis für das Versagen der SPD bei der Parteinahme für queere Menschen beschreibt. Nach Auffassung des Lesben- und Schwulenverbandes hätte Sandra Kegel von der Veranstaltung ausgeladen gehört, die SPD sei sich aber im Gegenteil "nicht zu schade" gewesen, "die Einladung an Kegel aufrechtzuerhalten".

Man könnte den Vorfall als einen der vielen Empörungsstürme in den kleinen oder auch winzigen Filterblasen der digitalen Öffentlichkeit abtun. Der erste Jour fixe mit dem Schriftsteller Ingo Schulze brachte bei Youtube nur 449 Abrufe. Die Aufzeichnung der Veranstaltung mit Sandra Kegel brachte trotz der Debatte bis Montagnachmittag auch nur 3304.

Das sind Werte im kaum messbaren Bereich. Am Montag wurde die deutsche Youtube-Hitliste, nur zum Vergleich, von einem Video des Joey's-Jungle-Kanals mit dem Titel "Dumme Assi-Kinder-Experimente im Test" mit mehr als 450 000 Abrufen in weniger als 24 Stunden angeführt (trotz des klassenfeindlichen Titels ein recht lustiges Video des Youtubers Joey, der vor zwei Wochen mit seinem Coming-out auf Youtube 2,3 Millionen Abrufe und bei seinem jungen Publikum einiges Verständnis fürs LSBTI-Thema generierte).

Die digitale Irrelevanz der SPD-Grundwertekommission ist womöglich mal ein eigenes Thema. Immerhin wird der Jour fixe mit Sandra Kegel von Gesine Schwan moderiert, einer public intellectual. Eine Stellungnahme des LSVD ist wiederum keine Filterblasen-Lappalie. Als Deutschlands größte NGO zum Thema hat so eine Stellungnahme schon Gewicht. Vor allem aber stellt sich der Verband damit hinter die Empörung, die Mitglieder und Unterstützende der #actout-Initiative beim Jour fixe in einer Weise formulierten, die einen der Teilnehmer, der dabei war, im Ton sehr an die stalinistischen Tendenzen linker Gruppen im studentischen Milieu der späten Sechzigerjahre erinnerten. Alle fielen sie über die FAZ-Kollegin her.

Man muss Sandra Kegels Text nicht in Schutz nehmen. Der war das, was man in Amerika "tone deaf" nennt, also von einer Taubheit für Untertöne und gesellschaftliche Realitäten geprägt. Er basierte auf der ethischen Verfehlung in so vielen Debatten: mit dem Aufwiegen von einem Leid das Leid anderer zu relativieren. Kegel tat das, indem sie den Kampf der Frauenbewegung für die Legalisierung der Abtreibung zitierte, um den Kampf der LSBTI-Schauspielenden kleinzulächeln.

Solche Texte entstehen im Kielwasser einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, wenn man beobachtet, was für Wellen die provokanten Tweets konservativer Kollegen schlagen. Es ist die chronische Fehlinterpretation jener rhetorischen Methode, die der Säulenheilige aller Debatteure Christopher Hitchens in seinem Buch "Letters to a Young Contrarian" zu einem Zeitpunkt beschrieb, als es noch keine sozialen Medien gab und die Türme des World Trade Centers so gerade noch standen. Was aber nicht in Kegels Text stand, war eine homophobe oder sonst wie antiemanzipatorische Position.

Der Sieg reicht nicht. Der Gegner muss vielmehr zerstört werden

Die Fronten waren trotzdem klar, und zwar zu klar. Das ist, was Kahneman als "bias" beschreibt, die Voreingenommenheit, die vor Gericht zu Fehlurteilen und in Debatten zu aussichtslos verhärteten Positionen führt. "Noise" wiederum - also das Grundrauschen der Störungsmuster - richtet sehr viel mehr Schaden an, ist aber nicht so leicht zu erkennen. Dieses Grundrauschen entsteht überall dort, wo Entscheidungen zu einem Thema von verschiedenen Menschen gefällt werden.

Das ist im Gegensatz zur Voreingenommenheit selten feindselig. Wenn zum Beispiel sehr viele Politiker auf unterschiedlichen Ebenen darüber entscheiden müssen, welche Formen der Kultur während einer Pandemie noch erlaubt sind, dann entsteht ein solches Rauschen. Gerade weil es nur wenige Erfahrungswerte mit einer solchen Seuche gibt und auch keine Gesetze, die den Umgang detailliert genug regeln.

Was Kahneman und seine Kollegen fordern, sind systematische Erfassungen solcher Störmuster. Weil sie nicht nur Milliarden in der Wirtschaft kosten, sondern in einer Krise wie der Pandemie auch Menschenleben. Weil Vorurteile aber so viel leichter zu erzeugen und zu erkennen sind, schießen sich Debatten gerne auf klar definierte Gegner ein. Die Analyse eines komplexen Fehlersystems kostet viel Zeit. Und sie passt nicht in einen Tweet. Das ist letztlich der Unterschied zwischen einem Gegner und einem Problem.

Ursprünglich hatte die #actout-Initiative im SZ-Magazin getan, was Kahneman fordert. Sie lenkte die Aufmerksamkeit aus den Verwerfungen der aufgeheizten Debatten um Gendersternchen und gegenseitige Vorurteile auf ein System der strukturellen Diskriminierung. Sandra Kegel leitete daraus den Vorwurf einer verwöhnten Anspruchshaltung eigentlich privilegierter Menschen aus dem Filmgeschäft ab. Was Einzelne und den LSVD wiederum pfeilgrade in den Graubereich lockte, in dem die Debatten den Verlauf amerikanischer Wahlkämpfe annehmen: Ein Debattensieg reicht nicht, der Gegner muss vielmehr zerstört werden. In diesem Fall: Kegel soll nicht auftreten. Und - wie es der Nollendorfblog von Johannes Kram fordert - Kegel soll ab sofort keine Machtpositionen als Jurorin von Literaturpreisen (und in der Konsequenz des Gedankengangs als Feuilletonleiterin) mehr innehaben.

So wird aus einer Debatte Hetze. Die Mob-Reflexe, vor denen der Internetkritiker Jaron Lanier in seinem Essay "Digital Maoism" schon 2006 warnte, sind auch in der deutschen Digitalsphäre inzwischen eingeübt und üblich.

Sich auf eine Journalistin einzuschießen, das zahlt genau auf die falsche Seite ein

Die eigentliche Kulturdebatte dieser Tage ist nicht so leicht zu führen, weil sie eine enorme Menge einzelner Entscheidungen umfassen müsste, die vor allem von der Politik getroffen wurden. Die aber ist von der Naturkatastrophe und deren Folgen deutlich überfordert. Diese Stresssituation führt zu einem Anstieg der Störmuster mit seinen viel zu unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Entscheidungen, die nicht nur den Kulturbetrieb lahmgelegt und in Teilen schon zerstört haben.

Wer sich jetzt Vorurteilsdebatten zunutze macht, sind genau die Institutionen, die Störmuster entweder verbergen oder sogar fördern wollen. Dagegen vorzugehen, ist nicht leicht. Man müsste die Störfaktoren nicht nur erkennen, sondern vermessen und bekämpfen. Sich dabei auf eine respektierte Kulturjournalistin einzuschießen, zahlt genau auf die falsche Seite ein. Ein Forum ist ein Ort zur Erörterung von Problemen und Fragen. Und exakt hier findet die offene Gesellschaft ihr Ende?

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