Achtung Statement!:Kitsch as Kitsch can

Hans Ulrich Gumbrecht bereichert uns mit folgender Erkenntnis: Wir seien, wenn uns denn Rührung ergreift, weniger gerührt, weil irgendein Moment rührend sei, sondern weil wir gerührt seien von unserer eigenen Rührung - und das, so der Autor, sei ein klassisches Verhaltensmuster von Schwer-Intellektuellen. Das leuchtet sofort ein.

Drei Jahrzehnte oder etwas länger ist es her, da war der Kitsch das Lieblingsthema der Berufsintellektuellen. Man könnte sich fragen, aber das ist vielleicht ein anderes Thema, ob es Intellektuelle in nicht-besoldeten Verhältnissen heute überhaupt noch gibt. Die Literaturverweise zum Kitsch in jenen mehrbändigen Handbüchern kultureller Grundbegriffe, die weltweit als eine deutsche Gattung bewundert und verkauft werden, belegen jedenfalls, wie sehr das Wort in den siebziger Jahren die Geister erhitzte.

Achtung Statement!: So blieb es also beim Aufstellen und Benutzen von Trennmüllcontainern, beim gelegentlichen Umstieg von Benzin- auf Dieselmotoren sowie bei nachhaltiger Selbstzufriedenheit.

So blieb es also beim Aufstellen und Benutzen von Trennmüllcontainern, beim gelegentlichen Umstieg von Benzin- auf Dieselmotoren sowie bei nachhaltiger Selbstzufriedenheit.

Da solche Debatten nie deshalb enden, weil sie zum Beispiel eine Lösung hervorgebracht hätten, könnte es eine gute Frage im Blick auf die Vorgeschichte unserer intellektuellen Gegenwart sein, warum die Faszination des Kitschbegriffs so schnell abgeflaut und fast spurlos verschwunden ist.

Die Antworten laufen eigentlich alle auf dieselbe Pirouette politisch-korrekten Denkens hinaus: Ästhetische Urteile seien eben nicht nur historisch, sondern auch gesellschaftlich relativ. Deshalb müsse man sich ebenso zerknirscht wie herzlich für den Überlegenheitsanspruch entschuldigen, der mit der Abwertung des Kitschs einhergehe. Heute endlich, ist dabei unterstellt, habe sich doch die versöhnende Einsicht durchgesetzt, dass das, was der Gelsenkirchener Barock für die einen, eben ihr Bauhaus-Design für die anderen ist.

Kitsch as Kitsch can

Man kann auf soviel guten sozialen Willen allerdings auch weniger harmoniefreudig reagieren, nämlich mit der Frage, was denn an Selbstrespekt für die Profi-Intellektuellen noch bleibt, wenn sie sich nicht einmal mehr Geschmacksurteile zutrauen. So kommt dann schnell der Verdacht auf, dass die Kultur-Mandarine dem Kitsch vielleicht deshalb ihren schmalen Rücken zugekehrt haben, weil die vage Ahnung über sie kam, dass dieser Begriff zum Spiegel eines unerwünschten Selbstbildes werden könnte. Denn die überzeugendste und am häufigsten zitierte Kitsch-Definition (sie stammt von dem Philosophen Ludwig Giesz) ist die des "Gerührtseins über die eigene Rührung". Gegen den in ihr enthaltenen Verdacht, dass gerade Intellektuelle der Selbst-Beobachtung mit Leidenschaft frönen, ist kein Kraut gewachsen. Wenn wir aber -- antizyklisch in der Abfolge intellektueller Moden -- die Pointe vom Intellektuellen als zeitgenössischer Verkörperung des Kitschmenschen etwas farbiger machen wollen, lohnt sich ein philosophischer Umweg über die Schichten des Begriffs.

In seinen attraktiveren Versionen setzt der Kitsch-Begriff voraus, dass es um eine Haltung, eine Einstellung, einen sozialen Typus geht, eben um den "Kitsch-Menschen", und nicht um eine Unterscheidung zwischen Gegenständen, die "an sich" kitschig oder geschmackvoll wären. Niemand wird Dürers "Betenden Händen" oder all den Engelein, welche die Glückwunschkarten-Industrie aus den Gemälden des Raffael herauskopiert hat, objektive künstlerische Qualität absprechen.

Aber der Kitsch-Mensch hat diese Gemälde, für immer vielleicht und irgendwie zu Unrecht (aber warum sollte man Kunstwerken Gerechtigkeit widerfahren lassen?), zu Emblemen des schlechten Geschmacks gemacht. So gibt es Anlass zu der Frage, ob man sich Strategien vorstellen kann, welche die Werke immun machen würden gegen solche Kitsch-Wirkung. Den Surrealisten, denen so verzweifelt viel daran lag, nicht vom bürgerlichen Geschmack vereinnahmt zu werden, ist das keinesfalls gelungen. Längst gibt es selbst-gerührte Reaktionen auf surrealistische Provokationen, wie das berühmte Bild von der Pfeife, welches uns wissen lässt, dass es sich nicht um eine Pfeife handelt. Was genau tut der Kitsch-Mensch seinen Lieblingsgegenständen in solchen Fällen an?

Er begegnet ihnen, schreibt Giesz im Rückgriff auf eine kantische Unterscheidung, nicht einfach konzentriert und absorbiert "genießend", sondern in der Haltung des "Wohlgefallens". Das bedeutet, dass er sein Genießen genießt -- wogegen, beeilen wir uns hinzuzufügen, nichts einzuwenden ist. "Interesseloses Wohlgefallen" in Kants Sinne nähert sich dem Kitsch erst, wo es in "Genüsslichkeit" hängen bleibt. Dieses Wort beschreibt eine Haltung, die Distanz zu sich selbst und zu ihrem Gegenstand vorgibt, um dann gerade am Gegenstand und der eigenen Reaktion auf ihn "genüsslich" kleben zu bleiben. Genüsslich zum Beispiel wäre ein Blick auf Francisco de Goyas "Nackte Maja", der -- bei allem Lob für die künstlerische Meisterschaft -- allein auf den weiblichen Körper als Gegenstand sexueller Begierde fixiert ist. Doch kitschig würden wir einen solchen Blick auf Goyas Bild noch nicht nennen. Der Kitsch-Begriff ist fokussiert auf jene besondere Genüsslichkeit, deren Gegenstand die eigene Fähigkeit zur Rührung ist, die Fähigkeit, sich von der Welt in mitfühlende Schwingungen versetzen zu lassen, auf die der Kitschmensch dann in mitfühlender Schwingung mit sich selbst reagiert. Genau diese Struktur, welche wir heute als Kitsch identifizieren, galt im Zeitalter der Aufklärung unter dem Ehrentitel der "critique du coeur" schon einmal als Errungenschaft reinster Humanität. Der große Denis Diderot zum Beispiel wurde nicht müde, von den ebenso "heißen" wie "süßen Tränen" zu berichten, die er beim Lesen von Samuel Richardsons Romanen vergoss. Er hatte Mitleid mit den weiblichen Helden und ihrer von männlichen Unholden bedrohten Tugend. In der Rührung über diese Fähigkeit zum Mitleid glaubte er ein Substrat allgemein menschlicher Güte wiederzuentdecken, welches in den Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs, meinte er, schon beinahe verschüttet gewesen war.

Kitsch as Kitsch can

Nichts anderes als Vollst-Kitsch in diesem Sinn war jene Betroffenheit und Total-Identifikation mit allem, was Opfer-Status beanspruchen konnte, in der sich die heute 50-Jährigen ausführlich ergingen, als sie um die 30 und eigentlich an der Reihe waren, irgendjemanden oder irgendetwas herauszufordern. Stattdessen empfanden sie warmes Mitleid für die mit gewerkschaftlicher Verbissenheit als unzureichend befundenen Lebensbedingungen von Robben an fernen Ufern und von Blauwalen in noch ferneren Ozeanen.

Von Kindergarten-Wänden und Wahlplakaten grüßten die Babyboomer sich selbst und die Welt mit dem Kitsch-Satz par excellence: "Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt." Er lud ein zur universellen Rührung über die universelle Fähigkeit zum Mitleid mit Dingen, Tieren und Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und stellte doch zugleich sicher, darin lag seine Vollkommenheit, dass man beim Selbstgenuss einhalten durfte. Was hätte sich schon prinzipiell ändern lassen an diesem Leihvertrag mit der nächsten Generation? So blieb es also beim Aufstellen und Benutzen von Trennmüllcontainern, beim gelegentlichen Umstieg von Benzin- auf Dieselmotoren sowie bei nachhaltiger Selbstzufriedenheit. Gelegentlich wurde die moralische Überlegenheit der Trennmüllpraxis oder des Robbenmitleids zu einem Joker für all jene Anlässe, wo den Intellektuellen ihre Brotberufsverpflichtungen zu viel wurden: Wie viel Stunden gymnasialer und universitärer Lehre sind ersatzlos und ohne offizielle Widerrede gegen Protest-Aktionen vertauscht worden?

Ein anderer Kitsch-Dauerbrenner ist das Kleine, das nie Bedrohliche und deshalb Schutzbedürftige. Kaum einen Gegenstand kann man sich vorstellen, der in unserer Kultur nicht durch Verkleinerung erhebliche Rührungs- und mithin Kitschpotenziale freisetzte, ob es sich nun um Madonnen, Spielzeugeisenbahnen, Kameras, Bäume oder auch Gartenzwerge handelt. Was Psychologen als das "Kindchen-Schema" beschreiben, bringt noch kälteste Herzen zu schnellerem Schlagen, am Ende zum Schmelzen. "Kleine Meisterwerke", wie sie Verlage und Feuilletons vor allem in der Buchmessenzeit zuhauf entdecken, machen da keine Ausnahme, zumal wenn sich ihnen das Prädikat des "zu Unrecht Vergessenen" anstecken lässt.

Allerdings sind nicht alle Faszinationen des Intellektuellen-Kitsches derart zeitlos wie die, welche auf dem Kindchen-Schema oder bestimmten Betroffenheitsritualen beruhen. Lassen Sie einmal die Wärme auf sich einwirken, mit der Geisteswissenschaftler seit 20 Jahren vom "Flaneur" in der bohemisierten Fassung Walter Benjamins oder von dem bis zu einer gewissen Blutlosigkeit funktionalisierten "Beobachter" des Systemtheoretikers Niklas Luhmann schreiben und reden. Beide, Benjamins Flaneur und Luhmanns Beobachter (zweiter und aller weiteren Ordnungen), sind Rührung auslösende Figuren der Selbstbetrachtung, weil Intellektuelle selbst ja nichts lieber sein wollen als: marginal. Und das mit solcher Intensität, dass sie längst Marginalität als notwendige Vorbedingung für Intellektualität ausgemacht haben. Eine deutliche Peinlichkeitsgrenze überschreitet der Beobachter-Flaneur, wenn Professoren massenhaft zu intellektuellen "Nomaden" mutieren. Wäre es da nicht authentischer -- aber auch das ist potenziell kitschig --, wieder Winnetou zu lesen?

Kitsch as Kitsch can

Hochgradig selbst-rührend wie der wohl von Gilles Deleuze auf den Weg gebrachte "Nomade" hat ja auch Jacques Derridas und Paul de Mans Dekonstruktion gewirkt, und zwar schon lange bevor sich Derrida vor etwa 15 Jahren, also im mittleren Autoren-Alter, ziemlich konventionellen Themenspektren mit unmittelbarem Betroffenheitspotenzial zuwandte -- und nun in den Nachrufen des vergangenen Monats ob seiner Humanität besonders von denen gefeiert und beweint wurde, die ihn nie persönlich kennen gelernt hatten. Philosophisch gesehen war die Dekonstruktion seit ihren Anfängen in den späten sechziger Jahren auf zwei ziemlich elementare Motive fixiert gewesen, welche damals schon fast ein halbes Jahrhundert lang zum Standardrepertoire philosophischer Themen gehört hatten. Spätestens seit der "linguistischen Wende", die die menschliche Existenz zur Sprache totalisierte, galt es als ausgeschlossen, je einen Zugriff auf die "Welt an sich" beanspruchen zu können. Daraus folgte, dass jede markante Bedeutung von Beliebigkeit umgeben und durchdrungen sein musste. Gerade als die Philosophie mit diesen Provokationen einigermaßen zurande gekommen war und sich auf die pragmatische Frage zu konzentrieren begann, wie man nun -- philosophisch zumindest -- weiterleben sollte, hob der hohe dekonstruktivistische Ton an zu einer Klage in spätexistenzialistischem Selbstgenuss, zu einer Klage über verweigerte Welt-Referenz und über geschwundene Bedeutungs-Gewissheit. Nicht anders ist Michel Foucaults berühmter Schlussabsatz in der "Ordnung der Dinge" gelesen worden, wo der Begriff und die Gestalt des Menschen mit einer in den Sand geschriebenen Figur verglichen werden, die unter der nächsten Flut verschwinden wird. Das Pathos dieser Passage hat zu unbegrenzter Rührung über die eigene intellektuelle Fähigkeit zur Rührung Anlass gegeben angesichts der vagen, aber doch düsteren Prognose zum Schicksal der Menschheit. Außer dieser potenziellen Konvergenz in der düsteren Tonlage potenziellen Intellektuellen-Kitschs verbindet Derrida und Foucault vielleicht gar nicht sehr viel.

Der jüngste Ausbruch derselben Gefühlslage war die nicht so geheime Begeisterung hinter der weltweiten Zelebration von Betroffenheit (hätte man früher gesagt) und Entrüstung (sagt man heute) nach der Wiederwahl von George W. Bush zum amerikanischen Präsidenten. Antiamerikanismus wollen sich die offiziell Entrüsteten nicht vorwerfen lassen, denn sie kennen ja doch alle ein paar nette Amerikaner -- und zwar jene, die die Welt genauso sehen wie sie selbst. Dieser Präsident ist für Kitsch-Menschen wunderbar, denn sie haben eine unheimliche Affinität zu politischen Betriebsunfällen, hinter denen sie immer und immer mehr als Zufälligkeit vermuten und hinter denen vielleicht ja auch mehr als politische Ungeschicklichkeit steckt. Das Potenzial an möglichen Vorwürfen und Vermutungen scheint so endlos. Mit den Gefangenen in Guantanamo kann man sich umso ungestörter, voller und menschheitspathetischer identifizieren, solange auch die jüdischen Opfer palästinensischer Selbstmordbomber und die von islamistischen Kommandos enthaupteten Gefangenen irgendwie auf das Konto des "amerikanischen Imperialismus" abgebucht werden.

Die Fehlleistungen der amerikanischen Außenpolitik in den vergangenen Jahren sind vielleicht durch nichts zu entschuldigen, nicht einmal durch das Kitsch-Bedürfnis der Intellektuellengemeinde. Was dieses Kitschbedürfnis aber einfordert und fördert, ist die Reduktion aller Entrüstungs-Anlässe auf die einzige Quelle. Allzu gerne bewohnen wir Welten von solch kohärenter Moralität, in denen es vor allem keine Konflikte -- am wenigsten bitte: "tragische Konflikte" -- geben darf.

Dort dann dürfen wir unser reines Mitleid mit reinen Opfern in ebenso reinen wie vollen Zügen genießen, ohne je über dem Gedanken aufzuschrecken, dass wir selbst Täter sein könnten. Zu nichts eignen sich Intellektuelle weniger als zu Täterrollen. Entsprechend fatal fielen stets die Ergebnisse aus, wenn unsere Vorgänger diese Disposition überschritten. Die Wärme der Kitsch-Existenz behagt und schützt. Umso lieber träumen wir dann von heißen Nächten und kalten Himmeln.

Der Autor ist Professor für Literatur an der Universität Stanford, USA.

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