Achte Station in Benamera, Mauretanien:Ratten auf dem Mond

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Sein Haus hatte keine Fenster, und so ging er frustriert daran, mit einem Stück Holz eines in den Lehm zu brechen. (Foto: N/A)

Er schlief tief und erwachte erst, als die Sonne schon am Himmel stand. Als er für Zimmer und Abendessen bezahlt hatte, aus dem Innenhof des Hauses trat und die Gleise überqueren wollte, sah er, dass sein Zug nicht mehr da war. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Er schlief tief und erwachte erst, als die Sonne schon am Himmel stand. Als er für Zimmer und Abendessen bezahlt hatte, aus dem Innenhof des Hauses trat und die Gleise überqueren wollte, sah er, dass sein Zug nicht mehr da war.

Von Nouadhibou im Norden Mauretaniens fährt ein Zug entlang der Grenze zur Westsahara (ein Land, das kein anerkanntes Land ist) zu den Eisenerzminen in Zouérat. Der Zug ist einige Kilometer lang und absolviert die Strecke in achtzehn Stunden.

In die eine Richtung fährt er leer, in die andere Richtung sind seine zahllosen Waggons gefüllt mit Erz. Am Ende des Zuges hängen drei, vier passagiertaugliche Anhänger verschiedener Klassen.

Auf der Leerfahrt werden Waren, Autos und ganzen Ziegenherden mitgeführt. Auf der Rückfahrt kauern Männer und manchmal ganze Familien auf dem aufgehäuften Erz. Sie sind vermummt und trotzen dem Wind, der Hitze und im Winter auch manchmal der nächtlichen Kälte. Mit dem tastenden Lichtstrahl ihrer Taschenlampen suchen sie Schlafplätze, im heraufdämmernden Tag senken sie, ein Gebet murmelnd, ihre Häupter gegen Osten.

Er fuhr mit einem anderen, einem kleinen Servicezug, der für die gleiche Strecke fünf Tage braucht, da er immer wieder stehenbleiben und den großen Zügen ausweichen muss.

Dieser Servicezug versorgt die Nomadendörfer am Rand der Gleise mit Wasser und hat auch einen offenen Waggon, der als Gemischtwarenhandlung fungiert. Hält der Zug, kommen die Leute aus den Dörfern, um sich mit Reis, Nudeln, Öl, Fischkonserven und Batterien einzudecken. Für die Frauen und Kinder haben die Händler auch Tücher, einfaches Spielzeug und Stifte dabei.

Kommt der Zug in einen Ort, ist es immer ein besonderer Tag. Und doch gibt es keinen Ansturm. Die Menschen schlendern aus ihren Häusern und sind so unmerklich wieder verschwunden, wie sie gekommen sind.

Im Sommer kommen die Nomaden von weit her, um den Zug zu erwischen und sich und ihre Kamele mit Wasser versorgen zu können. Oft gibt es während dieser fünf Tage unerwartete Verzögerungen, und immer ist es der kleine Zug, der warten muss, bis der große Bruder an ihm vorüber gezogen ist.

Und die Lokomotive tuckerte

Eines Morgens, in einem Ort namens Benamera, kam der ohnehin schon langsame Zug fast unmerklich zum Stehen. Er ahnte, dass das für länger sein konnte, machte es sich im Schatten der Lokomotive gemütlich, aß gestampfte Datteln aus einem Ziegenlederbeutel und trank Wasser. Die Lokomotive tuckerte und zischte vor sich hin, als wäre sie bereit, sich jeden Moment wieder in Bewegung zu setzen. Benamera liegt am Fuße eines riesigen Monolithen und besteht aus Lehmbauten, die mit ausrangierten Zugteilen verfeinert worden waren. Decken werden mit Stücken von Gleisen gestützt. Schwellen dienen als Zäune, und Strukturen, die wie eiserne Spinnen im Sand stehen, werden in der Sommerhitze mit Planen und Tüchern zu massiven Zelten umfunktioniert.

Als es dämmerte, hörte die Lokomotive mit ihrem rhythmischen Gestöhne auf, und es war klar, dass an eine Weiterfahrt nicht zu denken war. Er durchquerte das Dorf in allen Richtungen, aber nirgendwo war eine "Auberge" oder gar ein Hotel ausfindig zu machen. Eine kinderreiche Familie erklärte sich aber bereit, den großen Raum, in dem sonst Gäste empfangen und mit Tee bewirtet wurden, für die Nacht zu vermieten. Sie hatten an diesem Tag eine Ziege geschlachtet, die es - gekocht, zerschnitten und auf Blechteller verteilt - zum Abendessen gab. Danach kam im Kochwasser gegarter Reis, und zum Abschluss gab es diesen unglaublich guten Tee, der liebevoll durch oftmaliges Umschütten zwischen Glas und Kanne und Glas und Glas bereitet und am Ende mit einer kleinen, feinen Krone aus Schaum gereicht wurde. Er schlief tief und, wie er meinte, traumlos, und da es stockdunkel war im Raum, erwachte er erst, als die Sonne schon am Himmel stand. Als er für das Zimmer und das Abendessen bezahlt hatte, aus dem Innenhof des Hauses trat und die Geleise überqueren wollte, sah er, dass der Zug nicht mehr da war.

Er ging also auf das Bahnhofsgebäude zu, das aus zwei alten Blechcontainern bestand, und in dem niemand zu sehen war. Ein Funkgerät rauschte vor sich hin, und eine dünne, krächzende Stimme gab ihm unverständliche Meldungen durch. Er wusste, dass sein Handy hier keinen Empfang hatte, fischte es aber dennoch aus der Jackentasche, um es noch einmal zu überprüfen. Es hatte keinen Empfang. Die wenigen Menschen, die er am Vortag gesehen und zu denen er Kontakt aufgenommen hatte, erklärten ihm gestenreich, dass der nächste Zug erst in ungefähr einer Woche hier halten würde. Er suchte sich einen schattigen Fleck neben der Moschee, klappte seinen Laptop auf und versuchte, etwas zu schreiben - aber seine Gedanken waren flüchtig. Er legte stattdessen Patiencen, bis das Gerät ihn ermahnte, seine Batterien aufzuladen. Das tat es einige Male, dann wurde der Bildschirm schwarz.

In der zweiten Nacht leistete er sich keine Unterkunft, denn sein Bargeld würde wohl nicht reichen, um bei der gleichen Familie eine ganze Woche zu wohnen und ein so reichhaltiges Abendessen zu bekommen. Ein Mann mit bronzefarbener Haut und einem weißen, elegant geknoteten Tuch um den Kopf machte ein Feuer aus ein paar dürren Zweigen mit langen Dornen. Er setzte sich zu ihm, nickte zum Gruß und schlief bald zum Tuckern des einzigen Generators im Ort ein. Als er erwachte, war es bitter kalt, der Mann war verschwunden, und das kleine Feuer heruntergebrannt.

Eine Woche später sprang auch der Generator nicht mehr an. Drei Tage zuvor war der letzte kilometerlange Zug nachts durch das Dorf gerattert. Beim ersten hatte er dem Zugführer wild fuchtelnd zugewinkt; beim zweiten hatte er vergeblich versucht, aufzuspringen, und beim dritten war er einfach auf den Geleisen stehengeblieben. Als er aber keinerlei Zeichen einer Bremsung, sondern nur ein wildes, schrilles Hupen bemerkt hatte, war er im letzten Moment zur Seite gesprungen. Für den nächsten hatte er geübt, schon zu laufen zu beginnen, wenn er den Zug am nächtlichen Horizont ahnte, um sich dann in voller Geschwindigkeit an einer der Leitern, die auf die Erzwaggons führten, hochzuziehen. Aber da war eben kein Zug mehr gekommen.

Sein Geld war verbraucht, und der alte Mann, der ihm bisher erlaubt hatte, gegen ein paar kleinere Ouguiya-Scheine Zweige seines Baumes zu verbrennen, schüttelte nur den Kopf, als er fragte, ob er Holz auf Pump haben könne. Niemand sprach mehr mit ihm. Selbst den Kindern war er langweilig geworden, denn die Batterie seines Fotoapparates war leer, und die Bilder, die er von ihnen gemacht hatte, waren alle hundertmal angeschaut worden. Vom Bahnhofswärter bekam er für die Kamera, die keinen Mucks mehr machte, noch eine Dose Sardinen. Dieser Mann hatte also noch Hoffnung, von hier wegzukommen. Tröstlich.

Kraftwerk: "Autobahn"

Er wagte es nicht, mit den Resten seiner Dattelpampe in die nächste Stadt, die fünfzig Kilometer entfernt war, aufzubrechen. Die Funkgeräte im Bahnhof waren inzwischen auch verstummt, und das letzte Lied, das er auf seinem iPod gehört hatte, war "Autobahn" von Kraftwerk. Irgendwann fuhr eine endlose Karawane Militärfahrzeuge am Horizont entlang. Alle taten so, als sähen sie das nicht, aber am nächsten Tag bekam er im Tausch für seine Jeansjacke, eine Sonnenbrille und einen Leatherman ein Haus aus Lehm zugewiesen. Es hatte nur drei Wände.

Nach drei Monaten sprach er den hiesigen arabischen Dialekt in groben Zügen und wurde mit einer Witwe seines Alters verheiratet, worüber die anderen Männer im Dorf hinter seinem Rücken lachten. Er war recht zufrieden und hütete die Kamele seines neuen Schwiegervaters. Dass ein nagelneuer Toyota Landcruiser am 13. Januar um Mitternacht im Dorf ankam, verschlief er. Als er am nächsten Morgen aus seinem Haus trat, dessen vierte Wand er inzwischen wieder errichtet hatte, sah er ihn gerade in weiter Ferne wieder davonfahren. Niemand hatte ihn geweckt.

Sein Haus hatte keine Fenster, und so ging er frustriert daran, mit einem Stück Holz eines in den Lehm zu brechen. Seine Frau weinte leise vor sich hin, als er das tat. Als er fertig war, verbrannte er das Holz vor seinem Haus und schaute den Mond an. Ein Schulfreund hatte ihm in der vierten Klasse Volksschule einmal einreden wollen, dass es Ratten gab auf dem Mond. Damals hatte er ihm nicht geglaubt. Jetzt war er nahe daran, seine Meinung zu revidieren. Er betete auch schon fünf Mal am Tag. Das gab seinem Leben einen Rhythmus.

Seine Frau steckte ein Polster in die neue Öffnung in der Wand. Es war Winter, und sie wollte nicht, dass es kalt wurde im Haus.

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