Süddeutsche Zeitung

Bestseller-Verfilmung "Acht Berge" im Kino:Heidi lebt hier nicht mehr

"Acht Berge" erzählt von zwei Jungs und ihrer Sommerfreundschaft in den Alpen - aber auch von der Härte des Berglebens jenseits von Postkartenpanoramen.

Von Sofia Glasl

Aus Freundschaft kann Heimat werden. Das stellen die beiden Elfjährigen Pietro und Bruno so überrascht wie begeistert fest, als sie sich Anfang der Achtzigerjahre im kleinen norditalienischen Bergdorf Grana begegnen. Beide sind Einzelkinder und daran gewöhnt, Dinge alleine zu tun, wie der erwachsene Pietro rückblickend berichtet: "Nie hätte ich geglaubt, einen Freund wie Bruno zu finden." Man sieht die beiden Jungs durch sommerliche Almwiesen streifen und jauchzend in einen klaren Bergsee springen. Bruno voraus, weil er hier lebt. Aber das Stadtkind Pietro verbringt fortan die Sommerferien bei ihm in den Bergen. Die Zeit dazwischen verschwimmt, denn die Jungs sind unzertrennlich.

Die Innigkeit dieser Freundschaft bedarf nur weniger Worte, zumindest im Hier und Jetzt der sonnendurchfluteten Monate, die die Kinder miteinander verbringen. Pietros nachträgliche Berichte wirken literarisch in ihrer sparsamen Poesie, sie stammen aus einem Roman: Der belgische Filmemacher Felix Van Groeningen verfilmt Paolo Cognettis autobiografisch inspirierten Coming-of-Age-Roman "Acht Berge", der 2016 sowohl in seiner Heimat Italien wie auch international ein Bestseller war. Erstmalig arbeitet Van Groeningen auch hinter der Kamera mit der Schauspielerin Charlotte Vandermeersch zusammen. Die beiden gewannen bei den Filmfestspielen von Cannes letztes Jahr den Preis der Jury.

Belgische Städter verfilmen italienischen Bergroman - das klingt zunächst wie eine fast beliebige Konstellation. "Acht Berge" findet jedoch brillante Bilder für den Roman, ohne zu wörtlich und damit platt zu werden. Damit gerät er unbeschwerter als Van Groeningens vorherige Filme wie "The Broken Circle Breakdown" (2012) oder das Drogendrama "Beautiful Boy" (2018). Diese hingen noch stärker an ihren literarischen Vorlagen und drohten unter den Sozialdramen zu ersticken, die sie erzählten. Hier ist die Handlung für Van Groeningen und Vandermeersch nur ein Anker, an den sie mehrere Erzählebenen anheften. Zwar werden aus Kindern Männer und eine Freundschaft übersteht Zeiten der Funkstille. Doch gleichzeitig spielen übergroße Vaterfiguren eine Rolle, ebenso der Klimawandel und die Globalisierung, die sich auf die Arbeit der Bergbauern auswirken.

"Ich bin das letzte Kind im Dorf", sagt der elfjährige Pietro

"Acht Berge" reflektiert mit diesen Nebensträngen ein Dilemma nicht nur der norditalienischen Alpen: Städter wie Pietros Familie verklären das Bergleben als linke Utopie vom Leben im Einklang mit der Natur. Bruno hingegen erlebt die Landflucht am eigenen Leib: "Ich bin das letzte Kind im Dorf", erzählt er Pietros Mutter beim ersten Treffen. Auch ihm ist klar, dass keine Kinder mehr nachkommen werden, denn mit ihm sind nur noch 14 Bewohner übrig. Die Schule ist lange geschlossen, die Bildungschancen sind hier gleich null. Sein Vater ist Maurer in der Stadt, sein Onkel kann selbst kaum von der kleinen Almwirtschaft leben.

Sie sind beide schon erwachsen, als Pietro Freunde aus Turin mitbringt, die von einem Leben als Aussteiger träumen. Bruno spöttelt unverhohlen, dass die romantische Vorstellung vom Bergleben nur so lange anhält, bis es regnet oder der Winter hereinbricht. Van Groeningens langjähriger Kameramann Ruben Impens rückt verklärte Postkartenpanoramen auch visuell zurecht, indem er den Film im beinahe quadratischen Bildformat fotografiert. Kaum ein Bergkamm oder ein Gletscher will richtig in seine Bildausschnitte passen. Für Einheimische wie Brunos Onkel fehlt schlichtweg die Zeit, den Blick zu weiten oder gar selbst aus Spaß an der Freude auf einen der Gipfel zu steigen.

Ein Bruch zwischen Pietro und seinem Vater wirkt sich auch auf die Freundschaft zu Bruno aus. Zwanzig Jahre wird es dauern, bis Pietro nach Grana zurückkehrt. Er wird Dokumentarfilmer und Schriftsteller, doch zieht es ihn immer wieder in die Berge, egal in welchem Teil der Welt er sich gerade befindet. Im Himalaya hört er den Mythos vom Weltenberg Meru. Umgeben von acht Bergen und Meeren gilt er als Zentrum des Universums. "Ich bin derjenige, der auf dem Meru lebt", sagt Bruno, als Pietro ihm die Geschichte später erzählt, "du hast die acht Berge bereist." Ob einer der beiden die bessere Entscheidung getroffen hat, können sie nicht sagen. Zweifel wie diese hallen wie Echos durch ihre Freundschaft.

Alessandro Borghi und Luca Marinelli spielen Bruno und Pietro als Erwachsene inbrünstig und zum richtigen Zeitpunkt auch zaghaft. So können sie beiden Figuren Raum für Ambivalenz und Zerrissenheit lassen. Auch wenn sie nicht wissen, ob sie sich für das falsche Leben entschieden haben, erdet ihre Freundschaft sie im Zweifel ohne Worte. Nach zwei Jahrzehnten Funkstille stehen die beiden sich im Bergdorf gegenüber und schauen einander unsicher an. "Schöner Bart", nickt Bruno schließlich anerkennend. "Deiner ist schöner", sagt Pietro.

Lo otto montagne, Belgien, F, IT, 2023 - Regie und Buch: Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch nach dem Roman von Paolo Cognetti. Kamera: Ruben Impens. Musik: Daniel Norgren. Mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi. DCM, 147 Minuten. Kinostart: 12.01.2023.

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