Film "Abteil Nr. 6":Russisch Roulette

Film "Abteil Nr. 6": Zwangsvereint im Zug von Moskau nach Murmansk: Seidi Haarla und Yuriy Borisov in "Abteil Nr. 6".

Zwangsvereint im Zug von Moskau nach Murmansk: Seidi Haarla und Yuriy Borisov in "Abteil Nr. 6".

(Foto: Sami Kuokkanen/dpa)

Welchen Schlafwagenmitfahrer erwischt die Finnin Laura auf dem Weg nach Murmansk? Das Roadmovie "Abteil Nr. 6" zeigt, wie man Russen-Klischees überwinden kann, die in diesen Zeiten allzu präsent sind in westlichen Medien und Filmen.

Von Sofia Glasl

Eine mehrtägige Zugfahrt im Schlafwagenabteil, das man mit einem wildfremden Mann teilen muss - für keine Frau eine angenehme Vorstellung. Noch härter wird es, wenn der junge Mitreisende einen kahlrasierten Schädel und Schlägerstatur hat, billigen Fusel und Dauerwurst auspackt und gleich mal die erste anzügliche Bemerkung raushaut. Zu allem Überfluss kann man an dieser Stelle auch seine Herkunft nicht verschweigen - er ist Russe.

Klingt das nicht nach dem Film zur Stunde - zur Stunde der neuentdeckten Russenskepsis, ja womöglich Russenfeindlichkeit in den westlichen Gesellschaften? In der Ukraine tobt Putins Angriffskrieg, junge russische Männer mit kahlrasierten Schädeln und Schlägerstatur richten dort gerade Verheerungen an, und auch wenn sie vielleicht von ihrer Regierung belogen und ohne Vorwarnung in ein Gemetzel geschickt wurden - Gut und Böse scheinen hier sehr klar verteilt zu sein.

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg der Bilder, ein Krieg der Menschenbilder, der unsere Wahrnehmung in diesen Tagen neu formt. Russen werden in der Realität wie in der Fiktion anders gelesen als noch vor sechs Wochen. Das führt zu der Frage: Wie entgehen Filmemacher, wie entgehen die Medien überhaupt der Gefahr, Russen-Klischees zu transportieren? Und wenn sie Stereotype vermeiden wollen, kann ein harmlos-liebenswürdiger Charakter überhaupt so gelesen werden, wenn für diese Interpretation gesellschaftlich kaum noch Raum ist? Solche Überlegungen begleiten aktuelle Filme im Kino wie im Fernsehen gerade fast zwangsläufig.

Nur ist der finnische Film "Abteil Nr. 6" von Juho Kuosmanen lange vor Kriegsbeginn fertig geworden, schon vergangenen Sommer hat er in Cannes den Großen Preis der Jury gewonnen. Selbst der Starttermin in Deutschland stand schon deutlich vor dem Einmarsch der Russen fest, das Ganze ist also Zufall. Ein glücklicher Zufall: Denn jetzt liegt eben ein besonderer Fokus darauf, wie man im Kino mit stereotypen Russenfiguren umgehen kann, wie man Klischees benutzt, um sie zu unterwandern - und wie dabei vielleicht sogar Völkerfreundschaft entsteht.

Denn die weibliche Hauptfigur des Films, sie heißt Laura (Seidi Haarla) und kommt aus Finnland, ist nun auch kein zartes Pflänzchen. Als der penetrante Sitznachbar, der sich als Ljoha (Yuriy Borisov) vorstellt, von ihr wissen will, wie man "Ich liebe dich" auf Finnisch sagt, willigt sie ein, ihm den Satz beizubringen. Und buchstabiert dann genüsslich, Laut für Laut: "Haista vittu - Fick dich!"

Die beiden reisen mit dem Zug von Moskau ins winterliche Murmansk. Sie will dort Petroglyphen sehen, jahrtausendealte Steinzeichnungen. Er will in einem Bergwerk Geld abgreifen, wie er es nennt. "Für mein Business", prahlt er und greift sich weltmännisch an die billige Armbanduhr, als trüge er eine Rolex. Was für ein Geschäft das sei, will Laura wissen. "Ist doch egal. Business ist Business", entgegnet er trotzig und reibt Zeigefinger und Daumen aneinander.

Kulturelle Grenzen und Klassenunterschiede müssen überwunden werden

Ansonsten gilt die alte Filmregel, dass dieses seltsame Paar erst einmal alles tut, um sich nicht näherzukommen. Laura versucht, ein anderes Abteil zu finden, beim ersten Halt in Sankt Petersburg versteckt sie sich sogar auf der Zugtoilette vor Ljoha. Später steht sie an einem Bahnhof in einer Telefonzelle und tut so, als spräche sie mit jemandem, um die vor den Scheiben auf und ab springende Nervensäge nicht beachten zu müssen. Genauso klar ist aber, dass die beiden dem Roadmovie-Drehbuch nicht entkommen können und deshalb miteinander in diesem Abteil festsitzen.

Das Ganze basiert auf dem gleichnamigen Roman von Rosa Liksom, der allerdings in der späten Sowjetära spielt. Juho Kuosmanen verschiebt die Handlung in der Zeit, allerdings nicht bis in die Gegenwart, sondern in die Neunzigerjahre. Die beiden fahren durch ein Sowjetreich, das sich schon aufgelöst hat, Mobiltelefone und Digitalisierung gibt es aber noch nicht. So sind Laura und Ljoha von der Außenwelt abgetrennt und müssen sich mit dem Hier und Jetzt auseinandersetzen.

Dabei gewinnt Laura ihre Abenteuerlust, die auch am Ursprung der Reise stand, langsam zurück. Bei einem Halt steigt sie kurz aus, wandert durch dunkle Gassen und kommt mit selbst gebranntem Schnaps zurück. Ljoha nimmt sie bei einem nächtlichen Zwischenstopp mit, klaut beiläufig ein Auto und fährt mit ihr zu einer Bekannten mitten im Nirgendwo. Die alte Frau erzählt davon, wie sie es geschafft hat, sich immer selbst treu zu bleiben. Laura nickt freundlich, aber verwirrt. Nach diesem Ausflug sind die beiden Freunde. Würde man sie fragen, weshalb, sie hätten vermutlich keine Erklärung.

Dabei müssen nicht nur kulturelle Grenzen, sondern auch Klassenunterschiede überwunden werden. "Und wenn du diese Petroglyphen gesehen hast - was dann?", fragt Ljoha. Dass jemand einfach zum Vergnügen nach Murmansk reisen könnte, ist für ihn unvorstellbar und weckt doch sein Interesse. "Man muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen", plappert Laura einen Satz ihrer akademischen Freunde in Moskau nach. Und scheint nicht einmal sich selbst zu überzeugen.

Der schlichte Wunsch, wahr- und ernstgenommen zu werden, steht für beide im Raum, doch dafür müssen sie erst herausfinden, wer oder was sie sein wollen. Kuosmanen konzentriert sich auf die oft zwischen den Zeilen stattfindenden Schwingungsänderungen zwischen Laura und Ljoha, und er vertraut dabei sehr auf seine Hauptdarsteller Seidi Haarla und Yuriy Borisov, die ihren Figuren immer wieder neue Überraschungen abgewinnen.

Borisov verleiht Ljoha eine aufgesetzte Körperlichkeit, die sein jungenhaftes Wesen vereinzelt in linkischen Bewegungen durchblitzen lässt. Ein kurzes Zögern, und die weltmännische Geste wird zum Taschenspielertrick. Lauras Lächeln angesichts solcher Unsicherheiten wandelt sich mit der Zeit zu Verständnis. Heilsam und beglückend zugleich sind diese kurzen Momente, in denen es Laura und Ljoha gelingt, loszulassen und ihrer neu entstandenen Freundschaft zu vertrauen.

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