Abgründe auf der Bühne:Wie nach einem Serienmarathon

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Geständnisse, Affären, Ausraster – und noch einen Drink, bitte: Wenn Frauen die Abwesenheit der Männer feiern. (Foto: Felix Grünschloß)

Ingmar Bergmans "Sehnsucht der Frauen" als versoffene Sommernacht am Badischen Staatstheater.

Von Cornelia Fiedler

Das Szenario bietet zwei klassische Möglichkeiten: Tragödie oder Komödie. Vier Frauen warten auf einer Insel auf ihre Männer. Diese, vier Brüder aus einer Industriellenfamilie, hatten nämlich die grandiose Idee, in familiärer Harmonie gemeinsam Urlaub zu machen. "Da sitzt man da und die Fassade blättert" - so bilanzieren die Ladys das Ganze vorab. Bevor es richtig losgeht mit "Passion - Sehnsucht der Frauen". Illusionen sind wohl was für Männer.

Schauspieldirektorin Anna Bergmann verweigert das Entweder-Oder und eröffnet die Spielzeit am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit einer Collage, die von Boulevardkomik über kühles Erzähltheater bis zum Psychothriller alles kann - und sie erhöht auf sieben Frauen. Diese nutzen die Abwesenheit der Männer und die Anwesenheit großer Mengen an Sekt, um Tacheles zu reden: über Machtspiele, Scham, Lust und die Frage, wohin die Liebe eigentlich geht, wenn sie flöten geht.

Nach ihren Filmadaptionen "Szenen einer Ehe" und "Persona" verschneidet Bergmann diesmal gleich drei weitere Werke des schwedischen Existenzialfilmers (und Namensvetters) Ingmar Bergman miteinander. Die Leichtigkeit der Komödie "Sehnsucht der Frauen" trifft auf die Selbstzerfleischung aus "Passion" und die psychotischen Realitätsverschiebungen aus "Wie in einem Spiegel". Dadurch holt sie intime Konflikte, die in den Filmen aus der Isolation entstehen, auf der Bühne in eine sehr spezielle, gnadenlose Öffentlichkeit - in die der Familie. Erleichtert wird dies durch zwei wunderbare menschliche Eigenschaften: Ignoranz und Egozentrik. Jeder kreist hier so hingebungsvoll um sich selbst, dass die Geständnisse, Affären und Ausraster der anderen kurz als "Megastory" gewürdigt und nach einem weiteren Drink souverän beiseite geschoben werden. Für das Inselfeeling dieser versoffenen Sommernacht sorgt Bühnenbildner Volker Hintermeier. Er platziert ein Leuchtturm-Stahlskelett auf mehreren Holzstegen, verteilt an den Rändern riesige flache, graue Kieselsteine und flutet den Bühnenraum mit einigen symbolischen Zentimetern Wasser, die zum Plantschen einladen.

Komaglotzen und in Abgründe blicken

Bis zur Ankunft der Männer, die ihre Verspätung mit einer peinlichen A-capella-Version von Cyndi Laupers "Girls Just Want To Have Fun" zu überspielen versuchen, erzählen die Frauen: Dabei übersetzen Bergmann und ihre Dramaturgin Anna Haas zum Beispiel Martas Erinnerungen an ihre irre Verknalltheit in den selbstgerechten Künstler Martin in eine kitschig bunte, getanzte Lovestory zwischen Leander Senghas und Bea Brocks. Auch dass es in der Beziehung zwischen Anna (Sina Kießling) und Andreas (Thomas Schumacher) aus "Passion" an Spielraum fehlt, erzählen sie bereits durch die Form: In dieser Episode bewegen alle Beteiligten ihre Lippen synchron zu Tonaufnahmen aus dem Off. Fremdbestimmt agieren sie Rollen aus, die sie nicht erfüllen können und wollen.

Die stärkste und bedrückendste Geschichte spielt nach der Ankunft der Männer, nach der Willkommensparty, in den letzten Zügen des Rausches. Rakel kämpft mit einer schweren Psychose. Mutter, Ehemann und Schwester sind mit ihrem Driften zwischen der realen und einer nur für sie sichtbaren religiös-endzeitlichen Welt komplett überfordert. Sarah Sandeh gibt dieser jungen Frau in ihren wachen, diesseitigen Momenten eine so ungeheuer liebenswerte, zupackende Fröhlichkeit, dass klar wird: Sie klammert sich mit aller Kraft an diese Welt, wie sie vor ihrer Psychose war, versucht alles, um zu bleiben, sogar eine wilde kleine, wassertriefende Affäre mit ihrem Heiopei-Schwager Martin. Umso bitterer ist es, sie endgültig aufgeben zu sehen.

Nach knapp drei Stunden verlässt man das Theater mit einem Gefühl wie nach einem Binge-Watching-Serienmarathon: Es ist einfach etwas viel, vielleicht zu viel der menschlichen Abgründe für einen Abend gewesen. Man hätte vernünftig sein können und eine Episode früher abschalten - dagegen spricht aber schlicht der Suchtfaktor.

© SZ vom 07.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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