Süddeutsche Zeitung

"Abenteuer eines Mathematikers" im Kino:Ein Film wie eine Gleichung

Der Mathematiker Stanisław Ulam half, eine der schrecklichsten Waffen aller Zeiten zu entwickeln. Dem Biopic über ihn fehlt es leider an etwas Entscheidendem: den Emotionen.

Von Nicolas Freund

Wie war das noch mal mit der Relativitätstheorie? Eigentlich ist es ganz einfach, sagt Stan und erklärt es der schönen Françoise auf einer Party so: "Stell dir vor, außer uns wäre niemand in diesem Raum, und wir wären die einzigen zwei Planeten im Universum." Sie und Stan die einzigen zwei Planeten im Universum? Das gefällt Françoise. "Dann könnten wir uns über nichts sicher sein", fährt Stan fort, "weil es keine Fixpunkte gäbe. Alles, was du sagst, wäre wahr aus der Perspektive deines Planeten, und alles, was ich sage, wäre wahr aus der Perspektive meines Planeten. Das Einzige, was wir genau wüssten, wäre, dass die Lichtgeschwindigkeit überall genau gleich ist. Und zwar für jeden."

Dieser Flirtprofi Stan heißt eigentlich Stanisław Ulam und lehrt Mathematik in Harvard. Geboren wurde er 1909 in Polen, in Lwow, das später zu Lemberg und dann zu Lwiw wurde. Wegen des Krieges in der Heimat ist er 1939 aber einfach im amerikanischen Cambridge geblieben und hat vom letzten Heimaturlaub sogar noch seinen jüngeren Bruder Adam mitgebracht. Der deutsche Regisseur Thorsten "Thor" Klein hat Stan nun ein Biopic gewidmet, basierend auf dessen Autobiografie, denn Stanisław Ulam war nicht irgendein Mathematiker, sondern ein Ausnahmegeist, ein unkonventioneller Lehrer, der seinen Studenten mathematische Probleme mit Beispielen aus Las Vegas erklärte - der seinen Verstand aber auch dafür verwendet hat, eine Waffe zu konstruieren, deren Wirkung jede Vorstellungskraft übersteigt.

Die Figuren sind Planeten in einem ansonsten leeren Universum

Denn Ulam war maßgeblich an der Entwicklung der Atom- und Wasserstoffbomben beteiligt, die bis heute wegen seiner Einfälle funktionieren. Obwohl er nicht so bekannt ist wie John von Neumann oder Robert Oppenheimer, verrät seine Geschichte doch viel über diese Zeit und die Menschen, die sich damals gezwungen sahen, diese schreckliche Waffe zu bauen. Ein Thema, das gerade drängend erscheint, nicht nur wegen der Atomdrohungen aus dem Kreml: Auch Christopher Nolan hat für kommendes Jahr einen Film über Robert Oppenheimer angekündigt.

Klein erzählt die Geschichte Stanisław Ulams aber nicht ausgehend von dieser Angst vor einem Atomkrieg, sondern mit der kühlen Strenge und Logik einer mathematischen Formel. Wenn Françoise das nächste Mal auftaucht, macht Stan ihr bereits einen Heiratsantrag, damit sie, die ebenfalls vor dem Krieg geflohen ist, in den USA bleiben kann. In der übernächsten Szene mit ihr ist sie bereits schwanger und hat Angst vor der Bombe, an der ihr Mann arbeitet. Klein, der auch das Drehbuch geschrieben hat, hält sich wenig mit den sonst üblichen Konventionen des Films auf, mit mehrfachen Erklärungen, doppelten und dreifachen Markierungen, die den Zuschauern dabei helfen, die Informationen verarbeiten zu können. Seine Szenen bauen meist streng logisch aufeinander auf. Wer nicht aufpasst, kommt bald nicht mehr hinterher bei den Motiven und Beweggründen der Figuren. Anstrengend oder verkopft ist das aber nicht, es macht den Film eher elegant, wie eine klare, mathematische Formel.

Das ist durchdacht, aber, ebenfalls wie bei einer Formel, geht es vor allem um Logik, Fakten und Argumentation, nicht um Emotionen. Dabei ist Stans Geschichte eigentlich eine sehr emotionale: der Krieg in Europa, die Beziehung zum vernachlässigten Bruder, die Liebe zu Françoise und nicht zuletzt die Last, Miterfinder der mächtigsten Waffe in der Geschichte der Menschheit zu sein. Nachzufühlen, was das alles mit Stan und seinen Mitmenschen macht, bleibt dem Zuschauer jedoch weitestgehend selbst überlassen. Das ist nicht unbedingt sein Problem, aber etwas mehr Anhaltspunkte als den in die Wüste starrenden Stan wären für eine Ahnung von dessen Innenleben dann doch nötig gewesen.

Einen Teil trägt auch die Kamera dazu bei. Klein und sein Kameramann Tudor Vladimir Panduru setzen sie oft mitten in die Szene, arbeiten mit wenigen Schnitten und folgen den Charakteren durch den Raum. So zu filmen und zu inszenieren, ist anspruchsvoll, man ist inmitten der Partys der Harvard-Studenten oder der Diskussionen der Wissenschaftler. Das macht die Szenen lebendig und dynamisch, der Zuschauer baut so aber zu den Figuren keine Beziehung auf. Sie sind Stellvertreter, Fakten, Behauptungen, ja: Planeten in einem ansonsten leeren Universum. Alles andere bleibt vage oder, wie Stan es erklären würde: Wir können uns bei nichts sicher sein, weil es keine Fixpunkte gibt. Françoise hat aber genau das gefallen.

Adventures of a Mathematician. Deutschland, Polen, Vereinigtes Königreich 2020 - Regie und Buch: Thorsten Klein. Kamera: Tudor Vladimir Panduru. Mit: Philippe Tlokinski, Esther Garrel, Ryan Gage. Filmwelt, 102 Minuten.

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