Warum fährt jemand zur See? Die Literatur ist voller Gestalten, angefangen bei Odysseus, die sich den Gezeiten aussetzen. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Romanfiguren und Seefahrern. Beide befinden sich in einer Art Zwischenreich, sind zugleich an- und abwesend. Wer zur See fährt, verschwindet und ist doch nicht richtig weg, wie die Figuren, die aus den Büchern sprechen und mit denen man fühlt, obwohl es sie gar nicht gibt. Während die Körper der zur See Fahrenden irgendwo von den Wellen getragen werden, wird ihre Rückkehr oder Ankunft an Land erwartet. Für den Seefahrer gibt es dort einen leeren Platz. Und manchem ist es ganz recht, wenn dieser Platz leer bleibt.
Ismael, der Erzähler aus Herman Melvilles "Moby Dick" ist so jemand. In Ian McGuires Roman "Nordwasser" sind es der betäubungsmittelsüchtige Feldchirurg Patrick Sumner und der Harpunier Henry Drax, die beide auf dem Walfangschiff Volunteer anheuern. Der eine, weil er sich während der Belagerung Delhis unerlaubt von der Truppe entfernt hatte und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, der andere, weil es an Land außer Alkohol und Jungs wenig gibt, das ihn interessiert. Auf dem Walfangschiff herrschen Eintönigkeit und strenge Regeln, doch gerade darin liegt für viele eine Art Freiheit. "Was bedeutet frei überhaupt? Derlei Wörter sind dünn wie Papier, sie zerknittern und reißen beim geringsten Druck. Nur Taten zählen, denkt er zum zehntausendsten Mal, nur Ereignisse." Sumner sinniert nach dem Apothekenbesuch über seine verpasste Karriere als Arzt und obwohl die beiden später, als der Körper eines Schiffsjungen verschwindet und nur tot wieder auftaucht, zu Gegnern werden, sind sie sich in diesen Gedanken sehr nahe, wie zwei Aspekte derselben Sache.
Dieses Misstrauen der Figuren den Worten gegenüber scheint auch für den Roman selbst zu gelten. Ian McGuire ist Experte für englischsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts und hat sich für "Nordwasser" bei Herman Melville und Joseph Conrad bedient, erzählt aber mit wenigen Ausnahmen streng chronologisch und realistisch. Kaum ein Vergleich oder eine Metapher durchbrechen die Beschreibungen der Waljagd und wenn, dann werden erlegte Haie von ihren Artgenossen "abgenagt wie die Kerngehäuse von Äpfeln". Nur einmal gibt es einen längeren Einschub des Erzählers, als Sumner bei der Robbenjagd zwischen zwei Eisschollen eingeklemmt wird, danach halb tot in seiner Kajüte deliriert und der Roman vom Eismeer des Nordatlantik ins staubige Delhi springt, wo die britische Armee brutal den indischen Aufstand gegen die Kolonialherrschaft niederschlug.
"Nordwasser" scheut dabei in seinem Realismus keinen Operationstisch und keinen misshandelten Körper. Es bleibt von den Menschen auf der Volunteer auch scheinbar kaum etwas anderes, ihre Körper wandeln an Bord, den Rest haben sie irgendwo zurückgelassen. "Er erinnert sich an die Gläser mit zerlegten Gehirnen, die hilflos und sinnlos wie eingelegter Blumenkohl schweben und deren schwammige Hälften weder Gedanken noch Begierden mehr beherbergen. Die Redundanz allen Fleisches, denkt er, die Hilflosigkeit von Gewebe; wie können wir eine Seele aus einem Knochen beschwören?" Auch die Tiere, die sie jagen, sind nur Material. "Der Tod, glaubt er, ist eine Art Schöpfungsakt, eine Art des Werdens. Etwas, das war, glaubt er, wird zu etwas anderem." Joachim Körber hat den Roman in ein sehr flüssiges und angenehm zu lesendes Deutsch gebracht.
"Nordwasser" war für den Man Booker Prize nominiert und obwohl er in seiner Mischung aus Kriminal- und Abenteuerroman so klug wie mitreißend spannend erzählt wird, stellt sich die Frage, warum gerade jetzt ein Buch erscheint, das nüchtern vom Überlebenskampf seiner Figuren im eisigen Norden erzählt und diese Geschichte fast jeder Metaebene entledigt, die dem Sujet seit mehr als 150 Jahren übergestülpt worden war. In "Moby Dick" werden die kapitellangen Exkurse zur Waljagd in der Regel als performativer Versuch gelesen, der Unbegreifbarkeit der Natur mit dem eingeschränkten Erkenntnisinstrument des Menschen zu Leibe zu rücken. Die metaphysische Ebene der Jagd und der rauen See rücken bei McGuire in weite Ferne, womit er sie aber zugleich für alle möglichen Zugriffe öffnet. Denn die Zeit der Walfänger ist auch in diesem Roman eigentlich vorbei, so wie die der Feldchirurgen und Harpuniere. Neue Techniken und Ausbildungen ersetzten diese Berufsfelder Ende des 19. Jahrhunderts, das einst zur Beleuchtung eingesetzte Walöl wird zunehmend durch das effizientere Paraffinöl ersetzt. Die reine Verzweiflung treibt die Menschen aufs Meer und degradiert sie zu Körpern, die irgendwann an einer fremden Küste anbranden. In seiner Offenheit ist der Roman auch als Flüchtlingsallegorie lesbar und so erscheint Ian McGuires brutale Überlebenskampferzählung ganz aktuell.