Süddeutsche Zeitung

"A Touch of Sin" im Kino:China in aller brutaler Stofflichkeit

In dem Sozialdrama "A Touch of Sin" von Jia Zhangke nehmen die Geschundenen des neuen Goldenen Zeitalters in China ihr Schicksal selbst in die Hand. Aber Würde oder Gerechtigkeit erlangen sie dadurch nicht - selbst wenn sie ultimative Gewalt gegen sich selbst richten.

Von Philipp Stadelmaier

Ein Minenarbeiter lehnt sich gegen die Korruption in seinem Dorf auf, welche die Privatisierung mit sich gebracht hat - und endet als Amokläufer. Ein Wanderarbeiter und Raubmörder wird durch die Wiederbegegnung mit Frau und Kind keineswegs zum besseren Menschen, bald begeht er den nächsten Mord. Eine Saunarezptionistin kann sich gegen einen chauvinistischen Kunden, der sie zum Sex zwingen will, nur zur Wehr setzen, in dem sie ihn niedersticht; und ein junger Gelegenheitsjobber sieht den einzigen Ausweg aus Elend und Prekarisierung im Selbstmord.

Es sind vier Geschichten, die in Mord und Selbstmord enden, vier Fait Divers aus vier verschiedenen Gegenden des gegenwärtigen China, aus denen Jia Zhangke seinen neuen Film gesponnen hat.

Auch wenn sie sich manchmal für einen kurzen Moment berühren, gibt es doch keinen Schicksalszusammenhang zwischen ihnen, wie es bei Episodenfilmen oft der Fall ist. Weniger der Inhalt der Geschichten ist das Entscheidende als ihre Ränder: es sind vier Himmelsrichtungen, vier Zipfel einer Fahne, vier Ecken, die das Bild eines ganzen Landes aufspannen.

Der Titel, "A Touch of Sin", erinnert zwar an King Hus Martial-Arts Film "A Touch of Zen" und also an eine moralischen Lektion und Kampf gegen ein schlechtes System. Tatsächlich könnte er keine nüchternere, nämlich rein plastische Funktion haben. Kriminelle Banden und Wegelagerer, brutale Chauvinisten, korrupte Beamten und wirtschaftliche Ausbeutung hinterlassen auf Jias Figuren einfach einen "Touch", eine "Berührung": Die Gewalt, die sie ausüben oder sich antun, ist reines Symptom anderer Gewalt.

Ein Menschenleben zählt nichts

So erlangen diese Unterprivilegierten am Rand der Gesellschaft auch keinerlei Würde oder Gerechtigkeit. Selbst dann nicht, wenn sich der junge Lohnarbeiter nach zwei verlorenen Jobs, einer verlorenen Liebe, der Wut einer harschen Mutter und der Prügel einer Straßengang aus dem Fenster stürzt.

Selbstmord, so heißt es hier einmal in einer Fernseh-Tierdoku, die im Hintergrund läuft, sei kein Vorrecht der Menschen, auch wenn der Suizid in der Gesellschaft zunehme - auch Tiere töteten sich. Ein melancholischer Humanismus würde die Härte der Situation gar nicht treffen. Ein Menschenleben zählt nichts.

Jia, der für "Still Life" 2006 den goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig gewonnen hatte, interessiert sich für den Übergang zwischen Kommunismus und Kapitalismus im gegenwärtigen China.

In "Touch of Sin" werden in einem Amüsierhotel für Geschäftsleute und reiche Kader die Kostüme der "Roten Armee" in einer erotischen Parade von Freudenmädchen aufgeführt: Die kommunistische Vergangenheit wird ausverkauft, wird Reizwäsche zur Verhüllung und Anpreisung der Körper-Ware.

Der Kommunismus hört nicht auf, den Kapitalismus zu jagen

Die Geschichte wird hier ebenso monetarisiert wie in "Still Life" die Landschaft, wo die Hauptfigur einmal die Drei-Schluchten-Region mit dem Bild auf einem Geldschein vergleicht, während sie bereits von dem gigantischen Staudamm-Projekt transformiert wurde. Die Wirklichkeit wird zum Bild und dieses zur neuen Währung, das so die Entwertung der Wirklichkeit vollzieht.

Aber wenn es in "Still Life" um die Demolierung ganzer Städte ging, die der neuen Talsperre weichen mussten, und Wasser und Nebel nach und nach das Wirkliche regelrecht verflüssigten, dann zeigt uns Jia doch keine "entmaterialisierte" Welt eines virtuellen Kapitalismus, der die alte Welt der Arbeiter und Bauern ablösen würde.

Wie im Amüsierhotel hört der Kommunismus nicht auf, den Kapitalismus zu jagen: Die neuen Zeiten sind ein langes Adieu an die alten. Jia, Pionier im Umgang mit digitalen Kameras, löst die Wirklichkeit nicht in Pixeln auf. Sondern er zeigt sie im Zustand der Auflösung, im Abtragen und Verschieben gigantischer Berge von Trümmern und Bauschutt.

Wir hatten also nie aufgehört, die materielle Welt zu bewohnen. Das modische Gefasel von der "Virtualität" von Pixeln und Geld ist eines der größten Klischees, das nicht nur in China die empfundene Ohnmacht in einer "ungreifbaren" neuen digitalen Lebenswelt legitimieren soll.

Wenn der Minenarbeiter in "Touch of Sin" dann seinen Boss in dessen Masserati erschießt, dann zeigt das zerstäubte Blut im Wagen eine "zerspritzte" Wirklichkeit - aber auch den brutalen materiellen Rest ihrer Auflösung. So widerstehen diese Bilder dem Bankrott des Wirklichen. Ebenso später, wenn sich die Sauna-Rezeptionistin immer wieder ihrem Peiniger zudreht, der von ihr Sex kaufen will und sie mit Geldbündeln ohrfeigt, als sei sie nichts als ein Bild, das man besitzen, kaufen und so oft schlagen könne, wie man wolle. Bis sie zurückschlägt.

A Touch of Sin / Tian Zhu Ding, VR 2013. - Regie & Buch: Jia Zhangke, Kamera: Yu Lik Wai. Mit Zhao Tao, Wang Baoquiang. Rapid Eye Movies, 130 Min.

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