Süddeutsche Zeitung

Brexit-Kolumne "Affentheater":Das Grinsen der Grausamkeit

Trotz der Geschichte und des Mangels an Pflegekräften schiebt Großbritannien weiter so viele aus der Karibik stammende Einwohner ab wie nur möglich.

Kolumne von A. L. Kennedy

Ach, wir wollten so tapfer sein. Egal, welche Härten der Brexit uns zumuten mochte, wir wollten stark und allein stehen, wie damals von 1939 bis 1945. Wir würden Rationierungen begrüßen und geistreich bemerken, dass sie unserer empfindlichen, schwachbrüstigen, Bäume umarmenden Jugend ganz gut täte ...

Die Wirklichkeit? Hysterie und geleerte Supermarktregale beim ersten Hinweis auf ein Virus, das zwar potenziell tödlich ist, aber ansonsten Menschen in Selbstisolation bloß zwei oder drei Wochen ans Haus fesseln würde. Inzwischen warnen Politiker, dass gestörte Lieferketten und geschlossene Märkte schlecht seien. Ach wirklich? Matt Hancock, Gesundheitsminister - und der eigenartig ölige Nachbar, dem man nicht mal seinen Goldfisch übers Wochenende anvertrauen würde - wird in einer Krise bestimmt zu großer Form auflaufen. Seine Behauptung, er habe sich mit den Supermarktketten abgesprochen, um die Lebensmittelversorgung sicherzustellen, wurde von den Supermärkten sogleich als "absolut erfunden" dementiert. Etwas zu sagen ist noch nicht das gleiche wie es zu tun, nicht einmal auf diesem feuchten Felsen, der von magischem Denken beherrscht wird. Dem nationalen Gesundheitsdienst fehlen 43 000 Pflegekräfte, und die grauenhaft schlechte Bezahlung liegt unter der neuen Einkommensschwelle für Einwanderer, weshalb ausländische Bewerber nicht herkommen und uns am Sterben hindern können. Ah, und extreme Armut sorgt gerade für einen Anstieg der Kindersterblichkeit. Aber Matt hat eine prachtvolle Stirn. Das lässt sich nicht leugnen.

Ein No-Deal-Brexit wird die Lieferketten nicht bloß Wochen, sondern mindestens drei Monate lang zerhauen, und jetzt kriegen wir einen kleinen Vorgeschmack auf #Panickkäufe. (Wir sind so panisch, dass wir Panik nicht mehr richtig schreiben können.) Hamsterkäufe bei Toilettenpapier häufen sich, dabei führt Covid-19 nur selten zu gesteigertem Papierverbrauch. Wenn wir mal hinter unsere verzerrten Weltkriegsfantasien schauen, haben wir allen Grund zur Angst. Während des Zweiten Weltkriegs halfen uns alle freien Mächte Europas. Jetzt können wir uns nicht mal überwinden, dem Europäischen Netzwerk zur Grippe-Überwachung beizutreten, bloß weil es das Wort "europäisch" enthält. Wir genossen massive Unterstützung durch die Armeen der Commonwealth-Staaten - allein aus Indien 2,5 Millionen Soldaten, 10 000 aus der Karibik. Jetzt fürchten wir die zunehmende Wirtschaftskraft der Inder und sind beleidigt ob ihrer Schadenfreude angesichts unseres selbst verschuldeten Niedergangs. Wir deportieren weiterhin so viele aus der Karibik stammende Einwohner wie nur möglich, in manchen Fällen widerrechtlich und mit tödlichen Folgen.

Wir kaufen derzeit etwa 90 Prozent aller russischen Goldexporte

Nach monatelangen Gerüchten kann unsere Innenministerin Priti Patel (schon einmal wegen des Verdachts der Einflussnahme zugunsten Israels zum Rücktritt gezwungen) die Vorwürfe nicht mehr unterdrücken, dass sie Regierungsbeamte eingeschüchtert und schikaniert hat, die so leichtsinnig waren, sie auf die Gesetzwidrigkeit ihrer Entscheidungen hinzuweisen. Während Popo der Premierminister selbstgefällig lächelt, wenn er die unglaublichsten Unwahrheiten äußert, kann Priti bei der Beschreibung von Grausamkeiten nie genau jenes Grinsen unterdrücken, das Sie erwarten würden, wenn Sie auf einem Operationstisch festgeschnallt in der Garage einer Unbekannten zu sich kommen.

Die USA haben uns in diesen Zeiten nichts zu bieten als Anti-Impf-Propaganda, den weiteren Vormarsch blutsaugender privater Krankenversicherungen und vergammelte Hühnerleiber. Russland - das damals womöglich den Krieg für die Demokratie oder was wir darunter verstanden gewonnen hat - ist jetzt weniger unser Verbündeter als vielmehr unser Besitzer. Wir kaufen derzeit etwa 90 Prozent aller russischen Goldexporte. Warum, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist das eine Funktion der Geldwaschmaschine London, oder eine Geldbeschaffungsmaßnahme für Personen oder Organisationen, die unbedingt unsere Institutionen zerstören wollen. Vielleicht setzen auch die Leute, denen klar ist, dass das Pfund schon bald nur noch zwölf Blatt Klopapier wert sein wird (aber das gute, dreilagig gesteppte), für die Zukunft auf ein wertbeständiges Edelmetall.

Und wir können nicht mal den wunderbaren und oben schon erwähnten deutschen Begriff Hamsterkauf entleihen. Aber wir setzen den vulkanischen Gruß "Lebe lang und in Frieden!" als kontaktlosen Gruß, vielleicht weil er von Ausländern stammt, die so anständig sind, auf anderen Planeten zu bleiben. Und in der Zukunft. Und in einem fiktionalen Universum, in dem es noch Experten gibt.

Popo nimmt derweil seinen Job als Killerclown sehr ernst. Neulich behauptete er, im Kettering Hospital Corona-Patienten die Hände geschüttelt zu haben, wodurch er ein bedeutender Krankheitsüberträger geworden wäre, wenn es denn überhaupt Corona-Patienten im Krankenhaus von Kettering gegeben hätte und man ihm zutrauen würde, dass er Menschen aus Arbeitergegenden anfasst. Hauptsächlich ist er unterdessen damit beschäftigt, die Schwangerschaft seiner Freundin öffentlich auszuschlachten. Es bleibt aber unwahrscheinlich, dass Popo so viele illegitime Nachkommen zeugen kann, dass wir dauerhaft von unseren Sorgen abgelenkt werden - der ersten Niederlage in unserem sinnlosen Fischereikrieg, dem Kollaps der Fluglinie Flybe, den Voten unserer Parlamentsmehrheit gegen einen Dank an die Fluthelfer, aber für eine Diätenerhöhung. Wir sind wahrhaftig allein. Wenn der Brexit richtig wirksam wird, wird unsere Zivilgesellschaft schneller verdunsten als alkoholhaltige Handdesinfektionsmittel.

Übersetzung: Ingo Herzke

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SZ vom 10.03.2020/khil
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