Der erste Ort, den Herr Soltani aufsucht, bei seinem zweitägigen Freigang vom Gefängnis, ist die letzte Ruhestätte des Perserkönigs Xerxes in Naqsch-e Rostam. Er durchschreitet den Staub am Fuße der gigantischen, in hohe Felswände eingelassenen Gräber der achämenidischen Herrscher, die gerade archäologisch untersucht und restauriert werden, besteigt eines der Baugerüste und klettert bis ganz nach oben. Hier trifft er seinen Schwager, der ihn herzlich begrüßt, ebenso wie die anderen Arbeiter. Er sei zu Geld gekommen, sagt Herr Soltani (Amir Jadidi) - nur wie genau, das will er nicht verraten.
Asghar Farhadis Film "A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani", ausgezeichnet mit dem Großen Jurypreis in Cannes 2021, erzählt seine Geschichte ausgehend von diesem Geheimnis. Und wie immer in den Werken des iranischen Regisseurs, der für "Nader und Simin" und "The Salesman" schon zweimal den Oscar gewann, tritt die Wahrheit erst nach und nach zutage - als müsse sie, wie das Felsengrab zu Beginn, erst archäologisch freigelegt oder restauriert werden.
Alles ist unglücklich gelaufen in Herrn Soltanis Leben, erfahren wir. Er wollte einen Betrieb eröffnen, wurde aber von seinem Partner übers Ohr gehauen. Daraufhin musste sein Bürge bezahlen, Herr Bahram (Mohsen Tanabandeh), ein Verwandter seiner Ex-Frau. Soltani selbst kam ins Gefängnis, in den modernen Schuldturm. Durch die Rückzahlung der Summe könnte er sich befreien.
Wer zu ihm hält, ist seine Verlobte Farkondeh (Sahar Goldoost), um deren Hand er aber noch nicht angehalten hat, weshalb ihre Verbindung geheim bleiben muss. Geheim ist auch, dass Farkondeh an einer Bushaltestelle zufällig eine Tasche mit Goldmünzen gefunden hat, die sie Soltani schenken will, um ihn zu befreien. Das Geld wäre also da, aber die Zweifel der anderen bleiben. Der Gläubiger hält Soltani für einen Lügner, selbst seine Schwester fürchtet Schande.
Es könnte alles gut werden. Wäre da nicht der unnachgiebige Gläubiger
Also verwirft Soltani den Plan mit der Schuldentilgung. Er macht einen Aushang in der Nähe des Fundortes, und als die Besitzerin der Münzen sich meldet, gibt er sie zurück. Warum der plötzliche Sinneswandel? Gewissensbisse, erklärt er später. Aber die Wahrheit ist komplexer. Er mag eine ausgeprägte Moral haben, aber er ist von den Unterstellungen der anderen auch beleidigt und verletzt.
In dem ambivalenten, duldsamen Dauerlächeln, das Amir Jadidi seiner Figur aufs Gesicht zaubert, schimmert ebenso viel Freundlichkeit und Demut wie Arroganz und Stolz. Soltani will allen beweisen, dass er ein guter Mensch ist, als wolle er sich für die Verdächtigungen rächen und dafür, dass er im Gefängnis gelandet ist.
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Beeindruckt ist vor allem der Gefängnisdirektor: Ein Häftling, selbst verschuldet, hat eine Tasche voller Gold zurückgegeben? Die Geschichte wird publik, Herr Soltani wird im Fernsehen interviewt, ein Wohltätigkeitsverein verleiht ihm eine Urkunde und veranstaltet eine Spendengala, um seine Schulden zu bezahlen. Doch wenn Soltanis Gewissensbisse schon eine Maske für seinen Stolz waren, so ist der selbstlose Held nun endgültig das Produkt einer Inszenierung.
Auf Anraten der Gefängnisleitung tut Soltani im Fernsehen so, als habe nicht seine Verlobte, sondern er selbst die Tasche gefunden. Gott habe ihm den Weg der Ehrlichkeit gewiesen, sagt er, während sein kleiner Sohn mit seinem Sprachfehler die Leute zu Tränen rührt. Dennoch sind diese Szenen nicht einfach zynisch und entlarvend, sie stecken auch voller Wärme und Humanität. Sie zeigen, dass Ehre und menschliche Güte Fiktionen sind, die aber real werden, weil Leute unbedingt an sie glauben wollen. Ebenso wie Herr Soltani in seinem Stolz fest davon überzeugt ist, ein guter Mensch zu sein.
Und so könnte nun alles gut werden, wäre da nicht der unnachgiebige Gläubiger, Herr Bahram. Von allen Seiten wird er angefleht, in Anbetracht von Soltanis ehrenhaftem Verhalten das eingesammelte Geld zu nehmen und auf den Rest der Schulden zu verzichten. Doch er stellt sich quer. Soltani habe lediglich eine Tasche zurückgegeben, argumentiert er, die ihm nicht gehört. Müssten dann nicht auch all die zahllosen anderen als Helden ausgezeichnet werden, die nicht stehlen und sich an die Gesetze halten?
Ab diesem Punkt kippen die Dinge. Denn nach dieser Logik verschwindet die Ehre in genau dem Moment, in dem sie als etwas Besonderes ausgezeichnet wird, und entlarvt sich umso mehr als die Fiktion, die sie die ganze Zeit schon war. Damit kann nun der eigentliche Albtraum beginnen. Der Wohltätigkeitsverein hat Soltani einen Job bei der Stadtverwaltung besorgt, damit er seine restlichen Schulden begleichen kann.
Als der Held seine Ehrlichkeit beweisen soll, beginnt ein kafkaesker Albtraum
Doch der Beamte, dem sich Soltani gegenüberfindet, könnte auch einer Erzählung von Kafka oder einem Film von Hitchcock entstammen. Er fragt, ob er seine Geschichte, die da in den Zeitungen stehe, beweisen könne, ob es Zeugen gebe. Es seien Andeutungen aufgetaucht, in den sozialen Medien, dass er das alles erfunden habe. Soltani versucht es, aber die Frau, die ihr Gold zurückerhalten hat, ist verschwunden. Und in der zunehmenden Logik des Verdachts verliert Soltani immer mehr den Boden unter den Füßen - ebenso wie die Zuschauer.
Denn wenn sich bei Farhadi die Wahrheit nur langsam entblättert, dann wird sie dabei immer ungreifbarer. Entscheidende Ereignisse der Vergangenheit blieben auch in früheren Werken des Regisseurs im Verborgenen: ein Selbstmordversuch in "Le passé - Das Vergangene", ein Überfall auf eine Schauspielerin in "The Salesman". Nichts läge seinem Kino ferner als Rückblenden, die in "A Hero" etwa die "wahre" Vorgeschichte der Tasche mit dem Gold aufklären würden. Dass Farhadi seinen Zuschauern somit eine Position zuweist, an der sie nie zu viel wissen, ohne dabei als Autor selbst Anspruch auf dieses Wissen zu erheben, ist eine der schönsten Qualitäten seines Kinos, und eine der seltensten Qualitäten im heutigen Kino überhaupt.
Bleibt das monumentale Felsengrab des Xerxes und die Frage, warum der Film ausgerechnet dort beginnt. Als würde Herr Soltani an einen Ort zurückkehren, an dem er von allen begrüßt, ja wiedererkannt wird, und an dem er sich selbst wiedererkennt, sich mit einer vergangenen heroischen Größe assoziieren kann. Xerxes bedeutet "herrschend über Helden".
Diese Monumentalität steht im Gegensatz zum alltäglichen Geschäft des Herrn Soltani, der von Beruf Kalligraf und Anstreicher ist. Im Gefängnis tapeziert, bemalt und übermalt er Wände. "Du übertünchst sowieso alles", sagt ihm ein Mithäftling, der auf seine plötzliche Berühmtheit neidisch ist, und meint damit die Wahrheit.
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Doch das Tünchen hat nicht nur einen moralischen, sondern auch einen historischen Aspekt. Letztlich verziert der stolze Herr Soltani die Wände des Gefängnisses ebenso wie die Künstler des Xerxes dessen Grabkammer vor tausenden von Jahren. Als wäre das Gefängnis Soltanis Heldengrab, auf dessen Wänden er seine Spuren hinterlassen wird.
"Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen", so hat Walter Benjamin einmal die Eigentümlichkeit der Literatur Franz Kafkas beschrieben. Zwischen dem Heroischen und Alltäglichen, der Monumentalität von Weltzeitaltern und dem Anstreichen von Wänden, liegt auch das Geheimnis der enormen und dabei doch fast unscheinbaren Filmkunst von Asghar Farhadi.
Ghahreman , Iran, Frankreich, 2021. - Regie und Buch: Ashgar Farhadi. Kamera: Ali Ghazi. Mit Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Sahar Goldoost. Neue Visionen Filmverleih, 127 Minuten. Kinostart: 31. März 2022.