9/11 und altbekannte Reflexe der USA:Geister in der Wüste

Tule Lake. Schon mal gehört? Es ist ein schwarzer Fleck der amerikanischen Geschichte: Kurz nach dem Angriff auf Pearl Harbor machte sich in den USA eine ähnliche ethnische Paranoia wie nach den Anschlägen vom 11. September breit. Eine Dokumentarfilmerin erzählt nun die Geschichte eines obdachlosen Japaners, der immergleiche Bilder malte: das Skelett eines Turms in Feuerstrudeln. Oder einen schroffen Berg, davor ein Gefangenenlager.

Alex Rühle

Vielleicht werden die stärksten Gefängnismauern ja tatsächlich aus Schweigen errichtet. Aus Schweigen, Desinteresse und Tabus. Jimmy Mirikitani war eingemauert. Fast 60 Jahre lang. Er lebte als grumpy old man in den Häuserschluchten von Manhattan, so wie andere Obdachlose auch: ein Einkaufswagen voller Zeug, ein ausgemergelter Körper, der sich im Winter in so viele Schichten hüllte, dass Mirikitani komplett darin verschwand.

DAMAGED USS CALIFORNIA BLAZES IN PEARL HARBOR IN 1941

Angriff auf Pearl Harbor 1941: Direkt danach wurden Tausende Japaner im kalifornischen Straflager "Tule Lake" interniert. Heute sitzen Menschen in Guantánamo ein, unter ähnlicher Entrechtung.

(Foto: REUTERS)

Die vorbeihastenden Passanten sahen dann nur noch die Hand, die aus einem abgewetzten Jackenärmel herausragte und die immerselben Bilder malte: entweder das Skelett eines Turmes, der in Feuerstrudeln verschwand. Oder einen schroffen Berg, davor ein Gefangenenlager: Stacheldraht, Baracken, weite Wüste. In der Mitte des Lagers, krümelklein, ein Männchen. Hätten sie ihn gefragt, er hätte vielleicht erzählt, dass das er selber ist, als ewiger Gefangener seiner Erinnerungen, seiner Bilder. Und zugleich, ganz konkret, als Insasse von Tule Lake. Aber es fragte ja keiner.

Tule Lake. Schon mal gehört? Natürlich nicht. Ein schwarzer Fleck der amerikanischen Geschichte: Direkt nach dem Angriff auf Pearl Harbor ließ die amerikanische Regierung 120.000 Japaner und japanischstämmige Amerikaner in zehn eigens zu diesem Zweck errichtete Internierungslager deportieren. Die Leute verloren alles, ihr Haus, ihr Geschäft, oft auch ihre Familie, sie hatten Zeit, einen Koffer zu packen, dann wurden sie in Zügen, deren Fenster verhängt waren, verschickt, schließlich waren sie alleine aufgrund ihrer Physiognomie allesamt potentielle Feinde. Wen interessiert da schon, ob dieser Jimmy Mirikitani 1937 extra wegen seiner pazifistischen Grundhaltung nach Amerika gegangen war.

Der Dokumentarfilmerin Linda Hattendorf fiel der alte Mann im eisigen Januar 2011 auf. Mirikitani schlief nachts vor einem koreanischen Laden, bei ihr um die Ecke. "Aber er wollte keine Almosen, Geld nahm er nur, wenn man ihm ein Bild abkaufte. Ich fing an, ihn zu filmen, ich dachte an eine Kurzdoku, damit er so vielleicht an eine Wohnung kommt. Aber auch, weil er trotz seines Alters und seiner ruppigen Art stark und lebendig wirkte. Ich konnte nicht ahnen, that his story and history so viel miteinander zu tun haben würden."

Risse in den Mauern zwischen den Leuten

Hattendorf sitzt in ihrem Apartment in Soho, ganz in der Nähe von Ground Zero. Die Wohnung ist so winzig, dass man sich kaum vorstellen kann, wie hier zwei Menschen leben sollen. Als aber am 11. September die in sich zusammenrauschenden Türme ganz Manhattan in eine toxische Wolke aus Asbest, Beton und Tod hüllten, ging die Filmerin Mirikitani suchen. Er saß in seiner Ecke, vollständig eingestaubt, mit einer lächerlichen Maske vor dem Mund, die ihm jemand geschenkt hatte. Da machte sie die Kamera aus und nahm ihn mit zu sich. In "The Cats of Mirikitani", dem Film, den sie über ihn und seine Lebensgeschichte gemacht hat, sagt sie: "So wie die Mauern des World Trade Centers in sich zusammenfielen, so bekamen auch die Mauern zwischen den Leuten Risse."

Im südlichen Manhattan muss eine merkwürdige Atmosphäre geherrscht haben in den Tagen nach dem 11. September. "Es war grauenhaft", sagt Hattendorf, "aber zugleich gab es dieses tiefe Gefühl, überlebt zu haben. Eine Schicksalsgemeinschaft zu sein. Die Verbindungsbrücken und Tunnels waren zu, in einigen Läden gab es nichts mehr zu kaufen, wir hatten ja nicht mal mehr Telefon, und Geld konnte man auch keines abheben." In der aktuellen Ausgabe des New York Magazine, das ein Lexikon zu 9/11 bringt, steht unter dem Begriff "Frozen Zone", Tribeca und Soho seien "eine Mischung aus Kriegsgebiet und Woodstock" gewesen: Restaurantbesitzer luden die Nachbarschaft zu freien Menüs ein, Geschäftsinhaber verschenkten ihre Waren an wildfremde Menschen.

Rund eine Woche dauerte dieser merkwürdige Zustand, dann öffnete die Wall Street wieder, die Brücken und Tunnels gingen auf, der Alltag kam zurück - nur Linda Hattendorf hatte jetzt einen alten Mann bei sich wohnen, der jeden Morgen aufstand und malte, den Turm in Flammen, den Berg, das Lager . . . Der abends wütend wurde, wenn er im Fernsehen sah, wie sich rasend schnell eine ganz ähnliche ethnische Paranoia breitmachte wie damals nach Pearl Harbor. Und der dann erzählte. "Nicht kontinuierlich", sagt Hattendorf, "keine geschlossene Geschichte." Es war eher ein dunkles Puzzle, das irgendwann kaputtgegangen sein musste und dessen Einzelteile sie in ihrem Film neu zusammensetzt:

Dass er 1920 als Kind japanischer Eltern in Sacramento geboren wurde. Dass seine Eltern, als er ins schulpflichtige Alter kam, mit ihm zurück nach Japan gezogen sind, genauer gesagt: nach Hiroshima. Sein Vater wollte, dass er Soldat bei der Marine wird, er aber wollte Künstler werden und ging 1937 wieder nach Amerika, zu seiner älteren Schwester. Den Großteil seiner Familie sah er nie wieder, sie starben in Hiroshima. Er selbst, der Kunst studieren "und dabei Ost und West versöhnen wollte", wie Linda Hattendorf es ausdrückt, verschwand für vier Jahre im Lager, wo ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Diese beiden Dinge haben ihn gezeichnet, ein Leben lang. Seine Art, sich dagegen zu wehren, bestand darin, eben diesen Schmerz zu zeichnen, ein Leben lang: den Hiroshimadom im Flammenmeer. Und Tule Lake, das Lager in der kalifornischen Wüste, mit dem dahinter aufragenden Berg und einem winzigen Männchen.

Segregation, Rechtlosigkeit, Internierung

Nach dem Krieg wollte davon keiner hören. Rassische Segregation? Grausam schikanöse Lagerhaft? Massenweise Aberkennung der Bürgerrechte? Wir? Wir haben doch gerade den Kampf gegen den Stahlpakt des Bösen gewonnen!

In Hattendorfs Film erzählt Mirikitani einmal gerade davon, wie die Gefangenen von Tule Lake dazu gezwungen wurden, ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben, als man im Hintergrund die Fernsehmoderatoren darüber diskutieren hört, ob es nicht das Beste wäre, allen arabischstämmigen Amerikanern eigene Pässe zu geben oder sie anderweitig zu segregieren. Ein gruseliger Moment: Zwei Frontalangriffe auf die Bürgerrechte werden da vom Zufall ineinandergeschnitten.

Der Rest des Films wirkt dann fast wie ein Märchen: Linda Hattendorf fand in der New York Times den furiosen Text einer japanischstämmigen Lyrikerin aus Los Angeles, die eine Woche nach 9/11 schrieb, die Pogromstimmung gegen Araber und Muslime, die jetzt in den Staaten herrsche, erinnere sie an das Schicksal ihrer eigenen Familie, die im Krieg nach Tule Lake deportiert worden sei: "Die Schmach, komplett aus der Gesellschaft ausgesondert, selektiert zu werden, verschwand in diesen Familien nicht einfach nach dem Krieg, das überträgt sich über mehrere Generationen."

Die Autorin hieß Janice Mirikitani - Hattendorf hatte eine Cousine des Malers gefunden. Sie fand dann noch eine Schwester in Seattle, verschaffte ihm eine Wohnung in einem Altersheim, organisierte die erste Ausstellung seines Lebens und besorgte ihm Sozialhilfe. Fast wie eine Fee. Und wie Feen so sind: Sie will am liebsten unsichtbar bleiben. In ihrem Film genauso wie in diesem Text. "Ich bin nicht wichtig", sagt sie, "seine Geschichte ist interessant, die Tatsache, dass ein Mensch Anerkennung braucht."

Die Geister der Wüste

Hattendorf fand heraus, dass in Tule Lake alle zwei Jahre Gedenkveranstaltungen für die Überlebenden und deren Kinder stattfinden, und überredete Mirikitani, 2002 mit ihr dorthin zu fahren. Diese Reise muss etwas in ihm geheilt haben. Es ist kaum etwas übrig vom Lager, leere Baracken, ein Grabstein für die zehn Kinder, die hier gestorben sind. Aber er fand dort erstmals Leute, die selber wussten, welcher Schmerz hinter der Chiffre Tule Lake und in seinen naiven Bildern steckte. Mirikitani sagt im Film nach diesem Besuch: "Ich glaube, die Geister können jetzt in der Wüste bleiben." Der Film endet so versöhnlich, dass man geneigt ist zu glauben, dass all das geschönt sein muss.

Und? Sind die Geister in der Wüste geblieben? Hatte der Besuch in Tule Lake tatsächlich heilende Wirkung? "Soll er Ihnen selbst erzählen", sagt Hattendorf und nimmt ihre Jacke.

Zwanzig Minuten später öffnet ein winziger Mann die Tür einer Altersheimwohnung. "Linda", sagt er zur Begrüßung mit zahnlosem Lächeln, "Linda, Linda, Linda", dann geht er mit Trippelschritten ins Dunkel seines Zimmers zurück, die Hände vorgestreckt wie ein Blinder, und setzt sich auf einen zernüffelten Sessel. Um ihn herum scheint ein unsichtbarer Spinnweb aus Zeit und Stille zu hängen. Der 91-jährige Mirikitani hört nicht mehr gut, aber er schmunzelt den ganzen Besuch über. "Geht es Ihnen gut?" "Oh", sagt er und macht eine kleine Geste einmal quer durch sein Zimmer, "ich bin ein glücklicher Mann." Überall stehen und hängen knallbunte Bilder, Katzen, ein Adler vor einer mächtigen Sonne, tropische Pflanzen. Dann schlummert er ein.

Hattendorf holt Bilder hervor, die Mirikitani 2002 gemalt hat, nach seinem Besuch in Tule Lake. Blättert man sie durch, wirken sie wie ein langsames Daumenkino: Das Lager zerfällt von Bild zu Bild mehr: Erst gehen die Zäune kaputt, dann hängt das Tor schief in den Angeln, der Wachturm verschwindet. Genauso wie der kleine Strichelmann, der jahrzehntelang in der Weite dieses Lagers gefangen war. Auf den letzten Bildern sind nur der Berg und Wiesen zu sehen. "Ich konnte es selbst nicht glauben", sagt Hattendorf, "dass man in hohem Alter noch derart gesunden kann . . ."

Später, auf dem Weg zurück zu ihrer Wohnung, grüßt sie in ihrem Viertel so gut wie jeder. Als sich die dritte Nachbarin nach einem kleinen Mädchen erkundigt und Hattendorf das neugierig fragende Gesicht ihres Besuchers sieht, winkt sie ab: "Ach, eine Neunjährige, die bei ihrer 91-jährigen Großmutter aufwuchs. Als die Oma im Frühjahr starb, habe ich das Mädchen für vier Monate bei mir aufgenommen, aber das ist eine andere Geschichte."

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