Süddeutsche Zeitung

71. Filmfestival in Cannes:Zur Sonne, zur Freiheit - und zum Tee

In der Geschichte der Filmfestspiele waren bisher 1688 Werke von Männern zu sehen. Und nur 82 Filme von Frauen. "Les filles du soleil" könnte daher ein wundervoller Beitrag sein. Leider ist es ein schlechter Film.

Von Tobias Kniebe

Zwei schwarze Gestalten, weithin sichtbar gegen den Abendhimmel, direkt über dem riesigen Filmkuss auf dem Poster des Festivals. Es sind Scharfschützen der Antiterror-Polizei, die am Samstagabend auf dem Dach des Filmpalasts Stellung bezogen haben. Drunten am Roten Teppich werden Autos durchsucht, sogar die offiziellen Limousinen mit den Stars an Bord. Die erste Gala des Abends ist gerade vorüber, und die erste Nachricht von der Pariser Messerattacke im Namen des IS hat gerade erst die Croisette erreicht.

Der Film dieser Gala, "Les filles du soleil" der französischen Regisseurin Eva Husson, handelt exakt davon - nämlich von den Grausamkeiten des IS und dem Kampf dagegen. Hätte es ein besseres Bild für das Gefühl geben können, dass die Politik diesem Festival inzwischen nähergerückt ist als je zuvor? Und es ist ja nicht nur die Politik des Terrors und der Kriegsherde, der künstlerischen Freiheit und des Kampfes gegen Unrechtsregimes. Der Geist von Harvey Weinstein, der immer noch über die Croisette zu spuken scheint, die Frage nach der "Me Too"-Bewegung und der Repräsentation der Frauen im Wettbewerb - alles ist Teil einer politischen Welle, die Cannes in diesem Jahr erfasst hat.

Eva Husson ist die erste von nur drei Regisseurinnen, die diesmal einen Film im Wettbewerb zeigen dürfen. "Les filles du soleil" ist ihr zweites Werk, und wenn man ihre internationale Bedeutung einschätzen will, stellt man fest, dass sie keinen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag hat. Ist das symptomatisch? Cannes hat, daran zweifelt hier keiner mehr, bei den weiblichen Filmschaffenden viel gutzumachen. Ein Teil dieser Wiedergutmachung besteht darin, Eva Husson den wichtigsten Programmplatz des Wochenendes zu geben.

Aber nicht nur das. Bevor es losgeht, schreiten erst einmal 82 bekannte Filmfrauen über den Roten Teppich, auf Initiative von "Time's Up" und der französischen Gleichstellungs-Bewegung "50:50 en 2020" - Stars wie Cate Blanchett, Salma Hayek und Léa Seydoux sind dabei, Regisseurinnen wie Agnès Varda und Alice Rohrwacher, Produzentinnen, Autorinnen, und so fort. Jede steht symbolisch für den Film einer Regisseurin, der seit Anbeginn des Festivals im Wettbewerb lief - 82 Filme sind das, gegen 1688 Werke von Männern. Forderungen nach Gleichberechtigung werden verlesen, ein Gruppenfoto gemacht. Die Stimmung ist so feministisch und kämpferisch wie der Film, der dann folgt.

"Les filles du soleil" erzählt eine wahre Geschichte jesidischer Frauen im Nordirak, die 2014 vom IS nach Massakern an ihren Männern verschleppt, vergewaltigt und als Sklavinnen verkauft wurden, schließlich aber fliehen konnten. Einige greifen danach an der Seite kurdischer Milizen zu den Waffen. Nun helfen sie beim Kampf gegen ihre Peiniger, bei der Befreiung ihrer Heimatdörfer. Bahar, gespielt von der Iranerin Golshifteh Farahani, ist ihre furchtlose Kommandantin. Eine französische Kriegsjournalistin (Emmanuelle Bercot) wird Zeugin der Ereignisse.

Falls es je bessere Gründe für Frauen gab, zu den Waffen zu greifen, mit wuchtigerem "Me Too"-Kampfgefühl, müsste er für Cannes jedenfalls erst noch erfunden werden. Das mündet dann auch wirklich in eine euphorische Standing Ovation im Saal. Der Haken an der Sache ist nur: "Les filles du soleil" ist kein guter Film. Er trägt den Anspruch vor sich her, von einen tatsächlichen Konflikt auf Leben und Tod zu erzählen, aber schon das militärische Funktionieren dieser Fraueneinheit grenzt an unfreiwillige Satire.

Einmal hat eine Kämpferin, die bärtigen IS-Barbaren rücken bereits an, morgens keine Lust aufzustehen. Die Kommandantin beugt sich liebevoll über sie und sagt: "Da mache ich dir wohl erstmal eine Tasse Tee". Oder die Ladies rücken über offenes Gelände an eine feindliche Stellung heran, aber nicht etwa, wie jeder Soldat in der Grundausbildung, getarnt und auf dem Bauch robbend. Warum auch? Ein solches Bild würde die Frauen doch herabwürdigen. Hier reicht es, ein wenig den Kopf einzuziehen. Eine Soldatin hält die Spannung dann aber nicht mehr aus und rennt, ohne ein Kommando abzuwarten, brüllend auf den Feind zu. Soll das heißen, dass Frauen im Krieg emotionaler als Männer sind? Und das man ihnen mit so männlichen Erfindungen wie Strategie, Befehl und Gehorsam gar nicht erst kommen sollte?

Was man trotz nobler Intentionen hier erwarten könnte, wäre ein Hauch von Respekt vor der Wirklichkeit - diese Truppe hätte in den Bergen des Nordirak keine fünf Minuten überlebt. Für den Feminismus, für das Festival und für die Filmkunst ist das eine schlechte Nachricht. Zu allem Überfluss singen diese Sonnenmädchen Schlachtgesänge, die sich der Männerkriegsfilm seit fünfzig Jahren nicht mehr zu singen traut, und ihre Kommandantin wird mit diesem in die Ferne gerichteten Propagandahelden-Blick gefilmt, den man von allen ernst zu nehmenden Leinwänden längst verbannt glaubte. Soll all das, im Dienst der angeblich guten Sache, nun zurückkommen? Bitte nicht.

Und die Erschütterungen, was das aktuelle politische Bewusstsein der Filmkünstler und ihre neue Nähe zur Propaganda betrifft, gehen weiter. Wim Wenders zeigt, außer Konkurrenz in einer Spezialvorführung, "Franziskus - Ein Mann seines Wortes", seine Dokumentation über den aktuellen Papst. Er verwendet sehr viel Filmmaterial des Vatikans, dazu Interviews, die Franziskus ihm exklusiv gegeben hat, und lässt den Pontifex den Zuschauern dabei direkt in die Augen blicken - quasi eine Auftragsproduktion zum Ruhm des Heiligen Stuhls. Wenders selbst betont in jedem Satz seines Off-Kommentars, wie großartig er sein Sujet findet, und das ist dann auch das Einzige, wofür man ihm hier Absolution erteilen könnte: Er betreibt zwar hemmungslose Heldenverehrung, aber seine Begeisterung wirkt wenigstens echt.

Wohltuend wirkt es in solcher Stimmungslage, wenn die Filme von den Schlagzeilen über Terror, Kriege und Religionsführer wieder etwas Abstand halten. Dass der Iraner Jafar Panahi ein politischer Filmemacher ist, steht außer Frage, darf er doch seit Jahren weder offiziell arbeiten noch ins Ausland reisen. Auch in Cannes, wo sein Film "Se Rokh / Three Faces" lief, blieb sein Stuhl im Kinosaal leer, und jeder Kameraschwenk darauf wurde im Publikum beklatscht. Panahis Film handelt ebenfalls von der Unterdrückung der Frauen, von ihrem Eingesperrtsein in patriarchalen Verhältnissen.

Alles war schon immer schlimm. Aber die Revolution wird kommen

Ein Mädchen in den Bergen darf wegen seiner strengen Familie nicht Schauspielerin werden und erhängt sich - das zumindest suggeriert das Handyvideo, das die Geschichte ins Rollen bringt. Es ist an die berühmte iranische Schauspielerin Behnaz Jafari gerichtet, und es erreicht sie über den Regisseur Jafar Panahi. Die beiden spielen nun sich selbst, wie sie beunruhigt in die Berge fahren, um der Sache auf den Grund zu gehen - ein idealer Stoff, um guerrillamäßig und mit kleinstem Team ein Berufsverbot zu umgehen. Die überraschenden Entwicklungen, die sich in dem Dorf dann abspielen, wirken viel gelungener als so mancher Versuch im Wettbewerb, die jüngste Zeitgeschichte direkt auf die Leinwand zu bringen.

Was schließlich Jean-Luc Godard zur Lage zu sagen hat, der seit ziemlich genau fünfzig Jahren den Ruf verteidigt, am Ende doch der politischste Kopf des Kinos überhaupt zu sein? Persönlich ließ er sich nur übers Handy kurz nach Cannes zuschalten, sein neues Werk "Le Livre d'image" scheint aber ebenfalls von aktuellen Druckwellen erfasst zu sein. Immer wieder blitzen Schnipsel von IS-Propagandavideos auf, während philosophische Betrachtungen über "Das glückliche Arabien" von Nachrichten-Explosionen entzweigerissen werden. Godards Spätwerk-Technik der Bildschnipsel, Ton- und Zitat-Verhäckselung ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass man ihn auf inhaltliche Aussagen nicht mehr festlegen kann - auch eine Form des Protest gegen eine Gegenwart, die allerorten nach Affirmation und Aktion verlangt. Godard führt dagegen Bertolt Brechts Wort ins Feld, nur das Fragment enthalte noch Zeichen der Authentizität. Wie aber das Zusammensetzen der Fragmente erfolgen soll, da ist dann jeder auf sich gestellt. Was bleibt, ist der hypnotisch-raunende Klang von Godards Krächzstimme auf dem Soundtrack, die jetzt 87 Lebensjahre auf dem Buckel hat und deren Timbre schließlich doch eine unmissverständliche Botschaft transportiert: Alles war schon immer schlimm, und es wird noch schlimmer werden. Aber der Protest muss weitergehen, und die Revolution wird kommen.

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Quelle:
SZ vom 14.05.2018
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