Süddeutsche Zeitung

70. Geburtstag:Der Wunscherfüller: Steven Spielberg zum Siebzigsten

Wenn Steven Spielberg seinen Schauspielern eine Szene erklärt, sieht man sie vor sich, bevor sie gedreht ist. Unser Autor hat mit dem Regisseur gearbeitet.

Gastbeitrag von Hanns Zischler

Steven Spielberg zählt zu den Menschen, deren Laufbahn und Schaffen wie eine reine Wunscherfüllung anmuten - etwas, das anderen nur im Traum gelingt. Doch blickt man auf das große Panorama der Filme, die er seit fast seit einem halben Jahrhundert mit weltweiter Anerkennung macht, fällt auf, dass es eigentlich weniger die märchenhafte Erfolgsgeschichte ist, die einen für ihn einnimmt, sondern das erstaunliche Muster, das hinter diesen Filmen zutage tritt. A figure in the carpet. Spielberg ist ein ästhetisch wie handwerklich gleichermaßen erfindungsreicher Geschichtenerzähler wie wenig andere, dem Erzählkino verpflichtete Regisseure. Und er ist mit "Lincoln" ein epischer Historiker geworden, mit allen Gefahren, welche Hollywood für die Historiografie bereithält. Sehr viel entschiedener als noch "Die Farbe Lila" und "Amistad" zielt "Lincoln" in die Gegenwart der amerikanischen Geschichte. Er fädelt die Sozialgeschichte durchs Nadelöhr der Einzelschicksale.

Der Vater brachte Steven zwei Sprachen bei: Englisch und Computer

Ich erinnere mich gut, wie emphatisch er 2005 von seinem Lincoln-Stoff sprach, wie er neue Recherchen zur Geschichte des Bürgerkriegs finanzierte, wie er wiederholt die unglaubliche Zahl der über sechshunderttausend Toten erwähnte, die dieser Krieg - "mehr als jeder andere Krieg, den Amerikaner geführt haben" - zurückgelassen hat. Und dass dieser hässliche Konflikt bis heute nicht beendet ist und sich eben nicht zu einem entrückten Geschichtsbild verkapselt hat. Hierher gehört auch, dass diese Vereinigten Staaten - eine geografische Singularität - keinen eigenen Namen haben, und dass in diesem Staatenbund bis heute eine negative, den weiten Raum umschließende Kraft einer drohenden Entzweiung schlummert. Auch davon erzählt "Lincoln". Er tut dies mit einem Ethos der Friedfertigkeit, das umso bitterer ist, je deutlicher seine Erfüllung noch aussteht. Die Aufnahme des Films außerhalb der USA war eher verhalten. Vermutlich weniger wegen der geschilderten Grausamkeiten als aufgrund der für Nicht-Amerikaner schwer zu begreifenden Unabgeschlossenheit dieser Geschichte.

Die Mittel, die Spielberg für seine Erzählungen ersinnt, sind häufig aus einem riesigen filmgeschichtlichen Bildfundus herbeigewunken. Er wird nicht müde, das Ingenium der früheren Generationen zu bewundern, mit welchem Einfallsreichtum sie technische Probleme lösen mussten, deren digitalisierte Bewältigung heute die einstigen Herausforderungen vergessen macht. Nicht ohne leise Wehmut hielt er während der Dreharbeiten von "München" einen Kodak-Filmstreifen in die Höhe: "The last one. Never more."

Unvergessen die elfstündigen Vorbereitungen für eine einzige Einstellung im Hafen von Malta. Eine Kamera, die nachts aus großer Höhe die Boote aufnimmt, langsam tiefer sinkt, um im entscheidenden Augenblick ganz nah auf der Gruppe der israelischen Agenten innezuhalten. Es ist der ins Bild gefasste, unumkehrbare Augenblick einer Initiation: Von jetzt an gehören diese Leute zusammen. Ein Riesenspielzeug kam hier zum Einsatz, zentimetergenau ferngesteuert, ein bewegliches Integral aus Fokus, Licht, Choreografie und Dialog - ohne einen aufgepfropften Schnitt. Eine Riesentotale, die im Close-up endet. "Einmal einen Film nur in Close-ups drehen!", entfährt es ihm, wenn das nie versiegende Gespräch auf diese Cadrage kommt. Das Gesicht als weit verzweigte, zerklüftete Landschaft - am stärksten nicht zufällig in "Lincoln", diesem in vieler Hinsicht prophetischen Film.

Ballistisches Kalkül strömt durch seine Filme

Wenn Spielberg seine Einstellungen erläutert, klingt es immer so überzeugend, dass man die Szene schon "sieht", ehe sie gedreht ist. Ein Bewegungsraster, dessen technische Koordinaten gewissermaßen stillschweigend und hinter unserem Rücken installiert wurden, sodass wir, die Schauspieler, darin mit traumwandlerischer Sicherheit agieren können. So treibt er schon in seinem zweiten Film "Sugarland Express" das Roadmovie auf die Spitze, wenn er zu dem durch Texas kreuzenden Fluchtpärchen und der Meute der hundert Polizeiwagen in ihrem Nacken noch zusätzlich ein neben dem Fluchtwagen surfendes Fernsehteam ins Spiel bringt. En passant eine aufregende, rivalisierende Verdoppelung zweier Massenmedien. Die TV-Crew will die Flüchtenden aus nächster Nähe live übertragen - und mit einem virtuosen "bounce" katapultiert Spielberg das euphorische Fernsehteam an einer kritischen Stelle (des Films wie der Straße) in hohem Bogen aus dem Bild - vor die Filmkamera und damit aus dem Film. "Wäre fast schiefgegangen", sagt er, nach dieser Szene gefragt. Ballistisches Kalkül strömt durch seine Filme, manchmal glaubt man förmlich die Notation dieser Bewegungen spüren und sehen zu können.

Spielbergs Kino ist höchst entwickeltes Handwerk plus epische Erzählkunst, Crafts & Arts - und ein unwägbarer Rest, ein Überschuss, vergleichbar mit einem ganz bestimmten Sound, einem Kolorit, wie Komponisten und Maler es ihren Arbeiten als unverwechselbares Merkmal beimengen. Die Bewunderung für das mechanische Zeitalter der Kinematografie ist vielleicht auch ein Erbe seines präzisionsverliebten Vaters, der für das Kind zwei Sprachen sprach: "Englisch und Computer". Man könnte diese technischen Herausforderungen Patente nennen, wie Hitchcocks Treppenfahrt in "Frenzy", das Inside-Out-Spiel von Antonioni in "Beruf: Reporter", die Choreografien von Busby Berkeley.

Oder Jules Dassins wortlose, 19-minütige Unendlichkeit in dem unerhörten "Rififi", wo nur der Einbruch, die reine, in lastender Stille, von Staub und Schweiß durchsetzte Aktion von Stemmeisen, Pickel und Bohrer die Szene bis zur Unerträglichkeit beherrscht, als wären es Musterbilder aus einem Materialprüfungsamt. Spielberg gerät ins Schwärmen, wenn er davon spricht. Wichtig ist für ihn weniger, dass es die längste ihm bekannte Szene ist, in der nichts gesprochen wird, sondern wie weit die erzählerischen Mittel ausgereizt werden. Buster Keaton sei der größte Erfinder in diesen Dingen gewesen. Deprimierend und traurig seine, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, einzige Begegnung mit Keaton, kurz vor dessen Tod, als dieser alle Bekundungen, wie sehr man ihn verehre, nur müde abtat: "I am forgotten. Nobody knows my films any more."

Von seinen unmittelbaren Zeitgenossen ist es Michael Mann ("Heat"), dessen furiose Dramaturgie er als das Fortleben einer älteren Tradition bewundert. Und wer würde zu einer beispiellosen Hommage an das europäische Kino in der Lage sein, wie Spielberg, wenn er in "Unheimliche Begegnung der dritten Art" François Truffaut auftreten lässt? Vergleichbar nur Godards Verbeugung vor Fritz Lang in "Die Verachtung" und Wim Wenders' Verehrung für Nicholas Ray in "Lightning Over Water".

Grandiose kinetische Abenteuer und Augentäuschungen

Damals, während der Dreharbeiten zu "München", dämmerte mir, dass alle diese aus der Filmgeschichte ihm gegenwärtigen Bilder ein vielfältiger Reichtum sind, der Spielberg befähigt, seine eigenen, onirischen Erfindungen (am schönsten, in meinen Augen, in "A.I." und "Always") aus diesem "Album" zu bestücken. Im Rückgriff auf diese Bilderfindungen gelingen ihm grandiose kinetische Abenteuer und Augentäuschungen. Die sich vergrößernden Risse im Asphalt in "Krieg der Welten", das schwebende Warnlicht über dem Jeep in "E.T.", das nachgerade botanisch-sanfte Öffnen eines Kopfes in "A.I.". Es sind diese Attraktionen, welche die Handlung wie im Traum überwältigen und in ungeahnte Bahnen lenken. Er ist ein Meisterschüler des großen Prager Rabbis Löw, der Kaiser Rudolf und dessen Hof erst in Verzücken und dann in Schrecken versetzte, als er aufgefordert wurde, seine gigantischen Schattenspiele vorzuführen.

Robert Bresson war es, der die militärischen Voraussetzungen der Filmproduktion auf eine knappe Formel gebracht hat, sie lässt sich ohne Not auf Spielbergs Arbeitsstil anwenden, dem es vergönnt ist, seit "Sugarland Express" den Director's Cut wie ein Lordsiegelbewahrer innezuhaben. Bresson schreibt: "Kino, Kriegskunst. Einen Film wie eine Schlacht vorbereiten. Des Nachts verfolgte mich das Wort Napoleons: 'Ich mache meine Schlachtpläne mit dem Geist meiner schlafenden Soldaten.

'" Für diesen epischen Historiker und Geschichtenerzähler sind Science-Fiction-Stoffe (wie der ihm von Kubrick hinterlassene Stoff von "A.I.") die großen Initiationsriten, die eine ganze Spezies durchlebt: Passagen der Angstlust ins unbekannte Land der Zeit, die um den Preis der eigenen Entwirklichung und einer unabsehbaren Metamorphose ersehnt beziehungsweise erzwungen werden.

In allen Initiationsriten - im Märchen wie im Sci-Fi - geht es um einen prekären Zustand, der als Problem anhebt und an dessen Ausgang, mit einigem Glück und im Vertrauen auf die Kraft des Rituals, eine Lösung oder zumindest ein Weg sichtbar wird: Wie gelingt es uns, erwachsen zu werden? "Hook", "Das Reich der Sonne" und "E.T." erzählen davon. Diese Frage treibt Spielberg um. Man hat dies psychoanalytisch deuten wollen, als eine infantile Obsession oder als die kindische Seite einer jungen Nation, doch diese Abwehrmanöver greifen zu kurz. Spielberg begreift sein Kino als Raum, in dem wir auf den unabdingbaren Triebverzicht für die Dauer der Entrückung verzichten dürfen. Seine Filme schenken uns diese Wunscherfüllung. Meine guten Wünsche über den Ozean zu seinem 70. Geburtstag an diesem Sonntag.

Der Autor spielte 2005 eine der Hauptrollen in Steven Spielbergs Drama "München".

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Quelle:
SZ vom 17.12.2016/luc
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