Süddeutsche Zeitung

Filmfestspiele Venedig: Das Akkordeon:Nicht dabei und trotzdem stolz

Ein Telefonat mit dem regimekritischen iranischen Regisseur Jafar Panahi über seinen heimlich gedrehten Film, der nun ohne ihn in Venedig Premiere feiert. Und darüber, wie sich das anfühlt.

Tobias Kniebe

Die Villa liegt nicht weit vom Festivalpalais, von der Terrasse blickt man direkt auf den Strand. Auf dem Gartentisch steht ein Telefon, gerade wird eine lange, handgeschriebene Nummer eingetippt. Mazdak Taebi, Filmemacher, Exiliraner aus Kanada, lauscht dem Klingelton. Dann spricht er Farsi in knappen Sätzen. Schließlich wendet er sich an den Gast: "Fragen Sie. Wir sind mit Teheran verbunden. Jafar Panahi ist dran."

Die erste Frage ist, ob Jafar Panahi überhaupt frei sprechen kann. Ob er überwacht wird. Ob es denkbar ist, dass selbst dieses Gespräch ihn und seine Familie wieder in Gefahr bringt. Sein Konflikt mit dem iranischen Regime begann, als er sich den landesweiten Protesten gegen die Präsidentschaftswahl 2009 anschloss. Jetzt ist der 50-jährige Regisseur gerade auf freiem Fuß, gegen eine hohe Kaution.

Mazdak Taebi stellt die Frage, es folgt eine Stille, dann übersetzt er die Antwort. Sie klingt knapp und nüchtern: "Im Augenblick lebe ich im Ungewissen. Ich glaube nicht, dass vor Ende September noch etwas passieren wird. Dann beginnt der Prozess gegen mich, der entscheidet, ob ich wieder ins Gefängnis komme. Ob ich im Augenblick überwacht werde, weiß ich nicht. In meiner Umgebung habe ich keine Anzeichen dafür gesehen."

Bedeutet das nicht wieder Gefahr?

Klar ist, dass Panahi, der hier in Venedig im Jahr 2000 für "Der Kreis" den Goldenen Löwen gewann und 2006 für "Offside" den Silbernen Bären in Berlin, momentan keine Filme drehen, das Land nicht verlassen darf. Sein neuer Kurzfilm "Das Akkordeon" ist schnell und heimlich entstanden, im Südiran in der Stadt Shiraz. Durch Umstände, über die keiner der Beteiligten sprechen kann, entging das fertig gedrehte HD-Videomaterial dem Zugriff der Geheimpolizei bei Panahis Verhaftung und Hausdurchsuchung im März. Dann fand es seinen Weg nach Kanada zu seinem Vertrauensmann Taebi, und von dort zum Festival in die Sektion "Giornate degli autori".

Bedeutet auch das nicht wieder Gefahr? "Das ist unmöglich zu sagen", antwortet Panahi. "Aber ich wollte es so. Die Nachricht, dass der Film in Venedig läuft, wurde in Iran bereits verbreitet. Bisher ist nichts passiert, niemand hat mich kontaktiert. Jetzt muss ich abwarten."

Dass es ihm selbst nicht möglich sein würde, nach Venedig zu kommen, war wohl schon lange klar. Als am Mittwochnachmittag "Das Akkordeon" zum ersten Mal gezeigt wird, verliest Mazdak Taebi eine Grußbotschaft Panahis. Die halbe Filmwelt hat sich da im vollgepackten 1100-Sitze-Kino versammelt. In seiner Botschaft dankt Panahi für die Unterstützung der "Filmemacher und Filmliebhaber", die er erfahren hat. Die antworten mit frenetischem Applaus.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Panahi stolz ist, ein Mitglied der Filmgesellschaft zu sein.

Auch das ist eine wichtige Frage an ihn: Die zahlreichen Petitionen und Wortmeldungen von Schauspielern und Filmemachern, Juliette Binoche, die in Cannes unter Tränen Panahis Namen rief, ein Plakat für ihn in die Kameras der Weltpresse hielt - hilft das etwas? Zu diesem Zeitpunkt war Panahi schon mehr als zwei Monate in Haft, hatte nach endlosen Verhören und immer absurderen Anschuldigungen einen Hungerstreik begonnen. Drei Tage nach dem Ende von Cannes war er frei. "Es hat enorm geholfen. Die Filmemacher und Filmliebhaber der Welt haben mit einer Stimme gesprochen, und sie haben gezeigt, dass diese Stimme unglaubliche Kraft haben kann - mehr noch als die Statements aller Politiker. Sogar in meiner schlimmsten Zeit im Gefängnis habe ich mich als stolzes Mitglied dieser Gemeinschaft gefühlt. Und am Ende hatte das Regime keine andere Wahl mehr, als mich freizulassen."

So spricht keiner, den der Mut verlassen hat - und diese Haltung macht Panahi auch schon in der ersten Szene seines neuen Films klar. Der wurde Anfang des Jahres gedreht - nach den Wahlunruhen, auch Panahis Pass war da schon eingezogen, aber noch vor seiner zweiten Verhaftung. Man sieht zwei minderjährige Straßenmusikanten, einen Jungen und ein Mädchen, die singend und Akkordeon spielend durch die Stadt ziehen. Auf einmal biegt das Mädchen um eine Ecke, sieht die Rücken von betend gebeugten Muslimen - und erstarrt. "Eine Moschee", flüstert sie, und der blanke Schrecken in ihrem Gesicht enthält Sprengstoff für jede aktuelle Islamdebatte. In Panik bindet sie sich ein Kopftuch um - in dem ist ein leuchtendgrüner Streifen, die Farbe des Volksaufstands gegen die religiösen Machthaber in Iran.

Eine versöhnliche Botschaft

"Jeder ist natürlich frei, diesen Film für sich zu deuten", sagt Panahi. "Aber diese Szene ist weniger politisch gedacht, als es vielleicht den Anschein hat. Aus Versehen haben diese Kinder das Verbot missachtet, dass man vor Moscheen in Iran keine Musik machen darf. Das ist ein sehr altes Verbot, das nichts mit den aktuellen Entwicklungen zu tun hat. Ich will damit auch nicht den Respekt vor der Religion schmälern." Das Akkordeon wird dann von einem Mullah beschlagnahmt, der aber selbst so arm ist, dass er sich mit Straßenmusik etwas dazuverdienen muss. Die Kinder sehen ihn wieder, wie er stümperhaft mit ihrem Instrument auf dem Markt zu spielen versucht. Der ältere Junge packt einen Stein, um Rache zu üben, aber das kleine Mädchen hält ihn ab - sie stellt sich einfach mit ihrer Trommel neben den Mann, fängt an, mitzuspielen. Wenig später übernimmt der Junge wieder das Akkordeon, aber der Mullah bleibt bei den Kindern. Er hat jetzt die Aufgabe, die Schale für die Münzen zu halten, die sie zu dritt verdienen werden ...

Eine klare, versöhnliche, ganz unmissverständliche Botschaft - und das ist Panahi in dieser Situation auch wichtig. Er ist ohnehin der klarste Erzähler unter den großen iranischen Filmemachern. Keiner kann Oppression so beklemmend und fast körperlich spürbar machen wie er - insbesondere, wenn er vom Schicksal der iranischen Frauen erzählt, seinem Lebensthema. Dabei ist er nie belehrend oder didaktisch - aber er scheut auch vor nichts zurück. Hier allerdings will er nicht weiter zuspitzen. "Dieser Film spricht vor allem gegen Gewalt - und ich glaube, dass die Welt diese Botschaft gerade sehr nötig hat. Nicht nur in Iran, sondern durchaus auch anderswo." Zu seinen Haftbedingungen erzählt Panahi, dass er vierzehn Tage in Isolationshaft verbringen musste, bevor er zu Zellengenossen kam. Physische Gewalt gegen sich habe er nicht erlebt, aber endlose Verhöre und Erniedrigungen, die in der Anklage gipfelten, man wisse, dass er in seiner Zelle einen geheimen Film drehe.

Jetzt hat er endlich einen Anwalt und bereitet sich auf seinen Prozess vor. "Niemand weiß, was da passieren wird. In diesem System ist es unmöglich, etwas vorherzusagen", erklärt er. Kann man im Westen etwas tun, um ihn weiter zu unterstützen? "Ich habe nie um solche Unterstützung gebeten", lässt Jafar Panahi da ausrichten, "und ich tue es auch jetzt nicht. Was die Menschen für mich getan haben, haben sie aus ihrem eigenen Impuls heraus getan. Und es hat große Wirkung gezeigt."

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SZ vom 03.09.2010/ls
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