66. Filmfestspiele von Cannes:Zitternde Chinesen

Bends - 66th Cannes Film Festival

Kun Chen in einer Szene von "Bends", der in der Nebenreihe "Un certain regard" läuft.

(Foto: dpa)

Das ist auffällig in diesem Jahr in Cannes: Wo auf der Leinwand Reichtum zu sehen ist, verfallen nicht nur die Luxuswerte, sondern auch alle Sitten. Sogar Boom-Chinesen sind verunsichert.

Von Tobias Kniebe, Cannes

In Cannes wird mehr verhandelt als die Qualität des Weltkinos, und in diesem Jahr ist die Filmpolitik ein besonders heißes Thema. Gerade laufen in Brüssel die Verhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, und wenn Hollywood ein Wörtchen mitzureden hat, könnte dabei die europäische Filmförderung, wie man sie bisher kennt, abgeschafft werden. Was dann auch der Grund ist, warum am Nebentisch im Restaurant ein bekanntes Gesicht auftauchen kann, das man gar nicht aus dem Kino kennt, sondern von CNN.

Dieser dichte schlohweiße Haarschopf, dieser rosige Teint - das ist Chris Dodd, bald siebzig Jahre alt, für drei Dekaden Demokrat im US-Senat, nun Chairman der Motion Picture Association of America - und damit Hollywoods oberster Lobbyist.

Senator Dodd lauscht einem jungen, gut aussehenden Vertreter der staatlichen französischen Filmförderung, der sich unglaublich gerne selbst reden hört, betrachtet ihn mit halbgeschlossenen Augen, und nickt. Aber wenn man eine Botschaft aus diesen Politikeraugen herauslesen könnte, die natürlich schon alle Gemeinheiten Washingtons gesehen haben, müsste sie lauten: Freundchen, bald verspeisen wir Euch zum Nachtisch.

Die Filmemacher des Festivals, ob mit Förderung subventioniert oder nicht, zeigten sich unterdessen weiterhin gut in Form. Zum Beispiel Alex van Warmerdam, der seit bald dreißig Jahren die Niederlande als ein Reich komischer Sonderlinge zeigt.

In "Borgman" verschärft er seine Methoden zu neuer, zeitgenössischer Durchschlagskraft. In einem Tunnelsystem im Wald haust eine Gruppe von Ausgestoßenen wie einst die Vietcong, gejagt von einer Bürgerwehr mit doppelläufigen Schrotflinten.

Die Rückkehr des Verdrängten

Vielleicht haben diese Outlaws sogar freiwillig der Zivilisation entsagt - wer zu ihnen stößt, dem wird als erstes ein Teil aus dem Körper herausoperiert, das normale Menschen besitzen. Nur welches? "Borgman" gibt darauf keine direkte Antwort, genau wie Warmerdam alle Genre-Anklänge an den Zombiefilm, die sich aufdrängen, vermeidet.

Die reiche Hausfrau am Stadtrand etwa, die bei einem der Desperados Mitleid zeigt, wird in der Folge nicht sofort attackiert. Eher holt sie sich das Verderben dann ganz freiwillig ins Haus, in eine reiche und sterile Betonvilla mit Mann und drei Kindern, Nanny und Gärtner. "Da draußen ist etwas", sagt sie zu ihrem tumben Ehemann, "das manchmal zu uns hereinschlüpft. Weil wir die Glücklichen sind, und weil wir bestraft werden müssen."

Schöner kann man die Rückkehr des Verdrängten, wie es immer wieder über die Wohlstandsgesellschaft herfällt, nicht beschreiben.

Das ist auffällig in diesem Jahr: Wo auf der Leinwand Reichtum zu sehen ist, verfallen nicht nur die Luxuswerte, sondern auch alle Sitten und Sicherheiten; bei den Armen dagegen erreicht der Existenzkampf eine neue, fast neorealistische Härte und Dringlichkeit.

In Takashi Miikes brutal effektivem "Wara No Tate/Shield of Straw" lobt ein japanischer Mogul eine Billion Yen für jeden aus, der den Mörder seiner Enkelin tötet - und viele arme Japaner mutieren sogleich zu durchgedrehten Möchtegern-Killerin.

Oder "Bends", das Regiedebüt der Hongkong-Filmerin Flora Lau: Da sah man deutlich, dass auch die Boom-Chinesen längst zittern, zerrüttet von Abstiegsängsten und Aufstiegssehnsüchten zugleich.

Amerikanische Geschichten mit französischen Gästen

Die französischen Filmemacher, geschützt von einem großzügigen Fördersystem und einem treuen heimischen Publikum für das anspruchsvolle Kino, dem auch das Festival von Cannes seine Stärke verdankt, erlauben sich eher noch einen gewissen Eskapismus.

Die Filmemacher Arnaud Desplechin und Guillaume Canet erzählen beide amerikanische Geschichten, in englischer Sprache, mit angelsächsischen Stars wie Benicio del Toro und Clive Owen, plus ein paar französischen Gästen. "Jimmy P." ist dabei die berührende (und wahre) Geschichte eines indianischen Kriegsveteranen und Psychiatriepatienten Ende der vierziger Jahre, dessen Heilung gelingt, "Blood Ties" ein Crime-Drama aus den Siebzigern in New York, mit zwei Brüdern auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes.

Beide Filme sind überlange, auch überdeutliche Verbeugungen vor dem amerikanischen Kino der Vergangenheit, sie transportieren aber auch eine aktuelle Botschaft: Wenn die Amerikaner, deren unabhängiges Kino darniederliegt, solche Filme kaum noch machen - dann müssen eben wir Franzosen einspringen.

Bei den Coen-Brüdern liegt gar nichts darnieder, die kreisen längst in ihrem eigenen Orbit der Meisterschaft. Ihr neuer Film "Inside Llewyn Davis" erzählt exakt von jenen paar Wochen der Musikgeschichte, bevor Bob Dylan seinen ersten Auftritt im Greenwich Village hatte.

Wir schreiben das Jahr 1961. Die Folkmusik-Szene in New York blüht bereits, im fiktionalen "Gaslight Café" erklingen alte Immigranten-Balladen, voller Inbrunst zur Gitarre vorgetragen. Aber ist da auch Gefühl von Jugend und Aufbruch? Spürt man die Macht einer Idee, deren Zeit gekommen ist, ein Herzflattern vor dem Sprung zum Welterfolg? Von wegen.

Ein besserer Sänger als Bob Dylan

Der Film stellt diese Erwartung so gnadenlos auf den Kopf, dass er beinahe auf einen philosophischen Witz hinausläuft: Was ist schlimmer, als die Zeichen der Zeit zu verpassen? Ihr fünf Minuten voraus zu sein.

Llewyn Davis (Oscar Isaac) trägt, anders als Dylan, einen echten walisischen Namen, er singt sogar besser. Dennoch gelingt ihm nichts: Sein Bühnenpartner hat Selbstmord begangen, er ist pleite, schläft jeden Tag auf einer anderen Couch, kaum jemand meint es gut mit ihm - und die einzige Weisheit, die das Leben für ihn bereithält, lautet: Irgendwer muss ja die Arschkarte ziehen.

"Alles, was du anpackst, verwandelt sich in Scheiße" - so drückt es die hübsche Jean (Carey Mulligan) aus, die er versehentlich geschwängert hat: "Du bist König Midas' idiotischer Bruder." Und es braucht schon das ganze Talent der Coens, um diesen Abgrund des Versagens auszuloten, ohne in totale Depression zu verfallen. Aber es gelingt: John Goodman zum Beispiel spielt hier seine bisher lustigste Coen-Figur, was nach Filmen wie "The Big Lebowski" schon etwas heißen will. Und dann gibt es diese herrliche Episode mit einer Katze, die in die Filmgeschichte eingehen wird - als mitleidloses Gegengift gegen das rührselige Ende von "Frühstück bei Tiffany".

Und was den weißhaarigen Senator Dodd und die Lobbyisten Hollywoods betrifft, die gern die staatliche geförderte (und ohnehin nicht mehr sehr große) Konkurrenz der Europäer gegen ihr Blockbuster-Kino aus dem Weg räumen würden - da fand dann ausgerechnet ein Amerikaner starke Worte in Cannes. "Europa darf nicht wie die Vereinigten Staaten werden", sprach der mächtige New Yorker Filmmogul Harvey Weinstein auf dem Empfang seiner Firma, die schon unzählige Oscars mit dem Einkauf und Verleih europäischer Filme gewonnen hat. "Das großartige an europäischen Filmen ist doch, dass sie anders sind, dass sie ihre Kultur reflektieren. Wir werden ein Auge auf die Sache haben."

Wer Weinstein kennt und bei seinen Oscar-Kampagnen beobachtet hat, der weiß: Gegen diese Lobbyisten der Filmkunst ist kein Kraut gewachsen. Mit ihm an der Seite können die Europäer hoffnungsvoll in den Kampf ziehen.

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