Süddeutsche Zeitung

66. Filmfestival San Sebastián:Frauen, Ihr dürft hoffen!

Das Filmfestival in San Sebastián präsentiert in diesem Jahr ein spürbar weiblicheres Programm als die anderen europäischen Großfestivals. Den Hauptpreis der wichtigsten Filmschau Spaniens sprachen die Juroren allerdings einem sehr maskulinen Film zu.

Von Paul Katzenberger

Das Filmfestival von San Sebastián ist mit seinem Termin im September traditionellerweise das letzte der europäischen Großfestivals im Jahr, was für 2018 bedeutete, dass weibliche Filmemacherinnen lange warten mussten, bis sie wenigstens in Ansätzen eine Bühne bekamen: Im baskischen Seebad waren sie im Wettbewerb stärker repräsentiert als es bei Festivals ansonsten üblich ist - sie stellten immerhin ein knappes Drittel (28 Prozent) der Konkurrenz um den Hauptpreis des Festivals - die Goldene Muschel.

Der vergleichsweise hohe Frauenanteil war Anlass für viel Lob, werden die prestigeträchtigen Filmfestivals in Europa doch seit Jahren regelmäßig dafür kritisiert, Frauen zwar gerne als Augenweide auf dem Roten Teppich vorzuzeigen, aber wenn es um die Meriten der Filmkunst ginge, stünden nahezu ausschließlich Männer im Rampenlicht.

Der Vorwurf ließ sich auch in diesem Jahr nicht von der Hand weisen - am schwersten wog er in Venedig. Unter den 21 Wettbewerbsbeiträgen konkurrierte am Lido mit der Australierin Jennifer Kent gerade mal eine Frau um den "Goldenen Löwen", was einer Frauenquote von unter fünf Prozent gleichkam. In Berlin, Cannes und Locarno waren die Quoten weiblicher Teilnehmerinnen am Wettbewerb mit 16, 13 und 19 Prozent zwar immerhin zweistellig, doch von der Parität zu ihren männlichen Kollegen stets meilenweit entfernt.

Doch in die Causa kommt Bewegung: Beim wichtigsten deutschen Dokumentarfilm-Festival "Dok Leipzig" galt in diesem Jahr erstmals eine Frauenquote von 40 Prozent und in San Sebastián verwies Festival-Direktor José Luis Rebordinos nun darauf, dass die diesjährige Jury paritätisch mit Männern und Frauen besetzt gewesen sei, und dass dies auch künftig für die Auswahlkommissionen des Festivals gelten solle.

Schon in diesem Jahr waren die Wettbewerbsfilme in San Sebastián mit interessanteren weiblichen Figuren bestückt, als es der Zuschauer allgemein gewohnt ist. So präsentierte etwa Spaniens Regie-Ästhet Carlos Vermut mit seinem Doppelgängerinnen-Drama "Quién te cantará" eine Handlung, in der es vor allem um vier Frauen und kaum um Männer geht.

Innovativer als die Frauenfilm Almodóvars

2014 war Vermut in San Sebastián für seinen wilden und gleichzeitig märchenhaften Horrortrip "Magical Girl" mit der "Goldenen Muschel" ausgezeichnet worden und auch sein neues Werk erwies sich als vielschichtig: Die Popsängerin Lila (Najwa Nimri) weiß nach einem Unfall nicht mehr, wer sie ist, und wird von ihrem größten Fan, der Karaoke-Sängerin Marta (Natalia de Molina) gedoubelt. Was als Ratespiel um Ruhm und Selbstverwirklichung angelegt ist, erweist sich schließlich als Betrachtung des weiblichen Wesens, die innovativer und spannender ausfällt als die meisten Frauenfilme von Vermuts Idol Pedro Almodóvar.

Von Frauen dominiert war auch der Wettbewerbsfilm "In Fabric". Der britische Regisseur Peter Strickland hatte für seine abseitige Horrorkomödie auch das Drehbuch geschrieben, und sich dabei offensichtlich in einen Phantasietrip hineingesteigert. Denn eine viel verrücktere Melange als diese kafkaeske Synthese aus italienischem Retro-Horror, britisch-schwarzem Humor und Milieubetrachtung kann sich kaum jemand ausdenken.

Im Zentrum der Geschichte steht die Bankangestellte Sheila, die nach der Trennung von ihrem Mann auf eine Kontaktanzeige reagiert und ein Rendezvous vereinbart. Dafür gönnt sie sich im Schlussverkauf der skurrilen Boutique Dentley & Soperein ein elegantes Kleid in schreiendem Rot. Wie sich herausstellen wird, mordet die Robe. Das Unheil, das von ihr ausgeht, deutet sich schon durch die Verkäuferin Miss Luckmoore (Fatma Mohamed) an, die mit exzessivem Make-up, geheimnisvoll-verschwurbelter Rederei und einer Glatze, die sie unter einer opulenten Perücke verbirgt, eine morbide Erscheinung abgibt.

Was folgt, ist ein spleeniger Bilderreigen, der immer mehr in den Wahnsinn abgleitet. Es treten unter anderem auf: Waschmaschinen außer Rand und Band, gewaltbereite Schnäppchenjäger und enthemmte Partytiere, die bei einer Junggesellenfete wüst-wild einen draufmachen. Stricklands Film folgt der Logik eines Traums, was de facto bedeutet, dass er sich keinerlei Logik beugt. Doch er hat die Wucht eines Albtraumes - und auch dessen Nachhaltigkeit.

Eine starke feminine Komponente hatte in San Sebastián auch das Musik-Biopic "Yuli" der spanischen Regisseurin Iciíar Bollaín, obwohl es von einem Mann handelt - dem kubanischen Ausnahme-Ballerino Carlos Acosta. Lose basierend auf dessen Autobiografie "Kein Weg zurück" von 2008 zeichnen Bollaìn und Drehbuchautor Paul Laverty die Geschichte des Tänzers nach, der aus armen Verhältnissen in Havanna stammend eine phänomenale internationale Karriere hingelegt hat und als erster Schwarzer in der Geschichte des Londoner Royal Ballet den Romeo tanzte.

Dabei hätte nicht viel gefehlt, und Acosta wäre niemals Balletttänzer geworden. Denn als der Vater die tänzerische Begabung seines Sohnes erkannte und ihn an der Ballettschule anmeldete, schämte sich der junge Carlos vor seinen Klassenkameraden und schwänzte den Tanzunterricht. Seine Mitschülter hänselten ihn, weil sie Ballett für etwas sehr unmännliches hielten. Es widerstrebte ihm, "Strumpfhosen zu tragen, wie diese Schwuchteln", wie es an einer Stelle im Film heißt. Doch der Druck des Vaters (Santiago Alfonso) und die Fürsorge der Tanzlehrerin Cherie (Laura De la Luz) hielten Acosta so lange auf dem richtigen Weg, bis er selbst erkannte, welches Geschenk sein Talent bedeutete.

Der erwachsene Carlos Acosta wurde im Film von ihm selbst dargestellt, was ihm die Gelegenheit gab, einige Kostproben seines tänzerischen Vermögens auf der Leinwand zu geben. Seine kraftvollen athletischen Auftritte gehören zu den Höhepunkten des Biopics, das aber auch sehr viel Hintergründiges über die spezielle Lebenssituation der Schwarzen auf Kuba enthält. Drehbuchautor Paul Laverty, der sich als langjähriger Script-Writer von Ken Loach einen Namen gemacht hat, erhielt in San Sebastián dafür zu Recht die Silberne Muschel für das beste Drehbuch.

Sehr angemessen war auch die Entscheidung, die Silberne Muschel für die beste Darstellerin für eine Rolle in einem der fünf Wettbewerbsbeiträge unter der Regie einer Frau zu vergeben. Denn was die Norwegerin Pia Tjelta in "Blind Spot", dem Regie-Debüt der schwedischen Schauspielerin Tuva Novotny, zeigte, war eine 75-minütige Tour de Force. So lange spielte sie in Echtzeit eine Mutter, die den Selbstmordversuch ihrer Tochter miterleben muss, die dabei lebensgefährlich verletzt wird. Marias Seelenqual wird in dem ohne Schnitt gedrehten Film so real, dass die Zuschauer nach der Premiere in San Sebastián erst einmal eine Pause brauchten. Sie habe recherchiert, wie Eltern auf einen solchen Schock reagierten, erklärte Tjelta: "Um das rüberzubringen, half mir aber auch, dass ich es an einem Stück spielen musste, und so keine Gelegenheit mehr hatte, es zu reflektieren."

Befreiung von biblischen Moral-Kategorien

Die Goldene Muschel ging allerdings an einen Film, der ausschließlich von zwei Männern handelt. Denn Frauen tauchen in dem Drama "Entre dos aguas" (Zwischen zwei Wassern) des katalanischen Regisseurs Isaki Lacuesta nicht auf, weil der Film überhaupt keine anderen Figuren beschreibt. In der Sozialstudie nimmt Lacuesta die Geschichte der zwei Roma-Brüder Isra (Israel Gómez Romero) und Cheito (Francisco José Gómez Romero) wieder auf, die er 2006 in "La leyenda del tiempo" (Die Legende der Zeit) zu erzählen begonnen hatte, als die beiden noch Teenager waren.

Inzwischen war Isra wegen Drogenhandels im Gefängnis, während Cheito einen langen Einsatz auf einem Kriegsschiff hinter sich hat. Beide kehren in die bitterarme andalusische Provinz Cadiz zurück, wo nun auch Isra verzweifelt versucht einen ehrlichen Weg zu gehen. Die Geschichte vom "guten" und "bösen" Bruder geht erkennbar auf die biblische Erzählung von Kain und Abel zurück, doch Lacuesta befreit sich in seinem Film von den moralischen Kategorien der Heiligen Schrift und lässt die Brüder zueinander finden.

Dass sich der Siegerfilm von der patriarchalischen Bibel löst, passte zu diesem Festivaljahrgang. Denn Frauen konnten auch das als ein Hoffnungssignal bewerten, das von San Sebastián ausging.

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