65. Filmfestspiele Cannes:Alarmstufe Dunkelrot

Endrunde in Cannes: Sergei Loznitsa und David Cronenberg erzeugen in ihren Wettbewerbsfilmen "Im Nebel" und "Cosmopolis" vergleichsweise schwache Bilder. Loznitsa Existenzialismus bleibt seltsam leer, während Cronenberg mit seinem Spielfilm keine besonders potente Waffe für eine bessere Welt gefunden hat - trotz hoher Alarmstufe.

Tobias Kniebe, Cannes

Es sind doch immer nur einzelne Bilder. Schnappschüsse der Erinnerung, herausgefischt aus der stetigen Flut des Gesehenen. Roman Polanski etwa, wie er auf seinem Teller eine mächtige Artischocke balanciert. Mittagszeit am Strand, das Speisezelt des Carlton ist voll, Buffet für alle. Und also müssen sie alle anstehen: Legenden der Filmgeschichte, Arte-Redakteure in verbeulten Sakkos, Finanzmogule, Assistenten mit tiefen Augenringen. Ein solidarisches Bild, das alte Traumbild eines Festivals - und kostbar, seit die Samtkordeln der Segregation alle Gemeinschaft durchtrennen.

65. Filmfestspiele Cannes: Leben in Limousinen - Juliette Binoche in David Cronenbergs "Cosmopolis".

Leben in Limousinen - Juliette Binoche in David Cronenbergs "Cosmopolis".

Oder diese Nachtszene. Ein Bootssteg vibriert im Technotakt, an den Metallgittern brüllen die Gequetschten. Nur einer hat Ruhe gefunden: Ewan McGregor. Er ist Mitglied der Jury, er sieht glücklich aus, er hält die Hand seiner Ehefrau. Sie sitzen auf billigen weißen Plastikstühlen und schauen aufs Meer. Niemand belästigt sie. Und doch ist da ein Bagger, nebendran. Im Flutlicht taucht seine Schaufel ins Meer, greift Fuhren von Sand, türmt zu ihren Füßen eine Böschung auf, die noch lange nicht fertig ist.

Wenig wird bleiben dagegen von "V Tumane/Im Nebel", einem neuen Albtraum aus der düsteren Welt von Sergei Loznitsa. In "Mein Glück" begann die Reise noch im postsowjetischen Osten der Gegenwart, jetzt ist er ganz bei den Schrecken des Zweiten Weltkriegs angelangt: Weißrussland als eine Wüstenei des Leidens. Die Deutschen diktieren den dämonischen Rahmen, die Drecksarbeit erledigen dann wieder andere. Und Sushenya (Vladimir Svirski) muss erfahren, dass es schlimmere Dinge gibt, als wegen Sabotage gehängt zu werden - zum Beispiel in den Augen aller anderen ein Verräter zu sein, oder gar ein Lockvogel für den nächsten Überfall.

Wie sehr dieser Existenzialismus im Nebel aber doch leer bleibt, zeigt ein denkwürdiges, unerklärliches Detail: Da geht ein Mann in den sicheren Tod - und er hat kein Wort, nicht einmal einen Blick für seinen kleinen Sohn, dem er eine Minute zuvor noch ein Tier zum Spielen geschnitzt hat.

Überhaupt tun sich die Filme der Endrunde schwer - denn Bilder, die vorher kamen, erweisen sich jetzt bereits als stärker. Dazu gehören die Beine der Marion Cotillard, die Jacques Audiard für "De rouille et d'os" digital an den Knien amputieren ließ. Wie sie sich damit ins Meer stürzt und losschwimmt, eine neue, starke, aber nicht mehr ganz menschliche Kreatur, und wie sie lernt, damit Sex zu haben - das hat doch eine erotische Wucht, die das Kino ganz neu erobert.

Ruin an einem einzigen Tag

Oder Denis Lavant, den Leos Carax in seinem Irrsinnstrip "Holy Motors" ganz überraschend als Vater zeigt: Wie er möchte, dass seine zwölfjährige Tochter kein Freak wird, wie er selbst einer ist. Er holt sie von ihrer ersten Party ab, ein großer Moment, aber im Auto muss sie gestehen, dass sie vor Angst erstarrte, sich auf der Toilette verkrochen hat. Da wird der Vater wütend, und es folgt ein wunderbarer, wundersam trauriger Moment: "Du hast eine Strafe verdient", sagt er. "Deine Strafe ist, dass du von nun an mit dir selbst wirst leben müssen."

Kaum eine Chance dagegen hat David Cronenberg, mit seinem "Cosmopolis" so tief unter die Haut zu gehen. In der Theorie war es sicher noch eine gute Idee, jene Vorahnungen all der neuen Occupy-Energie zu verdichten, die Don DeLillo in seinem Roman von 2003 schon angelegt hat.

Auch Robert Pattinson, den glatten "Twilight"-Vampir, nun als jungen Börsen-Milliardär einzusetzen, der an einem einzigen Tag seinen Ruin erlebt, hörte sich nicht schlecht an. Wie auch bei Leos Carax spielt das alles in einer geräumigen Limousine, Mitarbeiter, Arzt und Geliebte steigen zu, es gibt Strategiediskussionen, Prostata-Abtastungen, Sex.

Arbiträre Wendungen hin zur Gewalt

Der US-Präsident ist zu Besuch in New York, Terroralarmstufe Dunkelrot, der Verkehr steht - dann fällt ein Mob der 99 Prozent über die Reichen, auch in dieser Limousine, her. Trotzdem gelingen dem Mann noch drei Treffen mit seiner Ehefrau, die noch reicher ist, sich aber nicht wirklich entschließen kann, mit ihm zu schlafen.

Der Blick auf diese Themen ist nicht sehr neu oder originell - der Film hat etwa die intellektuelle Sprengkraft eines Leitartikels im Wirtschaftsteil, der Wall Street zum hunderttausendsten Mal zur Mäßigung aufruft.

Dazu kommt die erschreckend gleichförmige, hochartifizielle Redeweise aller Figuren, ein zäher Fluss der Bilder, die selbst im Stau zu stecken scheinen, völlig arbiträre Wendungen hin zur Gewalt. Die Form des Spielfilms scheint derzeit keine besonders potente Waffe - zumindest im Kampf für eine andere, bessere Welt. Eher steht sie auf der Seite der großen Mystifizierer, denen das Handwerk zu legen nun gerade die drängendste Aufgabe wäre.

Bruce Willis lässt seine Maske kurz fallen

Die Schnappschüsse der Erinnerung jedenfalls, die funktionieren anders, da geht es nur darum, dass etwas sichtbar wird, dass Dinge überraschend aufeinandertreffen. Bruce Willis, wie er beim Eröffnungsdinner auf Wes Anderson zusteuert und seine Maske kurz fallenlässt, diese Aura kontrollierter, stets vage belustigter Männlichkeit. Er möchte seinen Regisseur einfach heftig umarmen - so gut muss ihm die Rolle des treuherzigen Liebhabers und Ersatzvaters gefallen haben in "Moonrise Kingdom".

Daneben stehen der sehr französische, bärtige und bebrillte Michel Hazanavicius, der Regisseur von "The Artist", und seine Frau, die strahlende Bérénice Bejo. Ach richtig: 2012 wird auch als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem ein französischer Film mit fünf Oscars zurückkam, der von Cannes aus auf die Reise nach Amerika geschickt wurde. Nur hat hier - auf beeindruckend lässige Art - niemand groß Wind darum gemacht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: