65. Filmfestival Cannes:Hol dir das Virus deines Lieblingsstars

Identitätskrisen gibt es für Menschen wie für Filme und ihre Feste. In Cannes beschwört deshalb der 89-jährige Alain Resnais seine Jugendliebe Eurydike und schafft bei aller Nostalgie Platz für das Neue. Auch Regieneuling Brandon Cronenberg widmet sich menschlicher Identität: Er setzt die bizarren Körperfantasien seines Vaters fort.

Tobias Kniebe

Gelegentlich packt den Menschen der plötzliche Drang, ein ganz Anderer zu werden - bei Künstlern passiert das gern auf dem Höhepunkt ihres Ruhms. Die untergründige Frage ist dann, wie lange das alles noch gut gehen kann - und die Antwort ist oft eine Flucht nach vorn. Auch Cannes selbst steckt offenbar in so einer Identitätskrise: Mit pausenlosem Platzregen und geradezu eisigen Winden tut die Stadt momentan so, als sei sie Gastgeberin der Berlinale.

65th Cannes Film Festival - Antiviral

Die heiß ersehnte Spritze: Brandon Cronenberg setzt in Antiviral die Körperhorror-Tradition seines Vaters fort.

(Foto: dpa)

Der Iraner Abbas Kiarostami, längst unwiederbringlich in der Filmgeschichte einsortiert, und zwar bei den Meistern der tiefen und einfachen Wahrheiten, ist so einer, der sich mit seinem Schicksal noch nicht abgefunden hat. Sein letzter Film spielte in der Toskana, da gab er vor, seit jeher zur europäischen Bildungsbourgeoisie zu gehören, und zwar als amüsierter Beobachter.

In "Like Someone in Love" geht er nun einen Schritt weiter: Der Film ist in Tokio gedreht, mit japanischen Darstellern, in japanischer Sprache. Warum? "Damit man mir nicht vorwerfen kann, ich würde einen Film für den Westen machen. Ob die Untertitel nun in Persisch oder Japanisch sind, macht für mich keinen Unterschied."

Erstens: Eine doch recht merkwürdige Motivation. Und zweitens ein durchaus gewagtes Statement - vor allem wenn man sieht, dass ihm zu Tokio und Japan doch nur Dinge einfallen, die schon allerorts in den Köpfen herumspuken: Die Tragik der entfremdeten Metropolenkinder, die keine Zeit mehr für ihre Eltern oder Großeltern haben, scheint er direkt aus Ozus "Tokio Story" und damit ungefähr aus den fünfziger Jahren importiert zu haben. Und die Idee bildhübscher Studentinnen, die ihre Körper an mächtige alte Männer verkaufen, nun ja - das ist dem Filmemacher dann selbst zu blöd, das ernsthaft durchzuziehen. In dem Moment aber, wo er vor dieser Konsequenz ins Drollige flüchtet, entweicht noch der letzte Sinn aus seinem Konstrukt.

Ein Film wie eine Pressekonferenz

Trotz allem sind Wandel und Neuschöpfung natürlich besser als Stagnation, da folgt die Kunst den Impulsen der Natur, oder konkreter noch denen des Kapitalismus. Das weiß auch Isabelle Huppert, und vielleicht deshalb hat sie ein seltsames Angebot von Hong Sang-Soo angenommen: Ohne fertiges Drehbuch an einen verlassenen Küstenort in Korea zu fahren, in einem Gästehaus abzusteigen und mit minimaler Crew den Improvisationen des Regisseurs zu folgen.

"In Another Country" heißt der Film, und darin treffen nun Hongs typische Männerfiguren - romantisch, albern, aufbrausend, spätpubertär - immer wieder auf Huppert in verschiedenen Inkarnationen, also mit anderen Worten auf die erwachsenste Frau des Weltkinos. Der Plan war wohl, dass da die Funken sprühen würden - aber das Ergebnis gleicht eher einer dieser radebrechenden Cannes-Pressekonferenzen, wo alle angeblich die Weltsprache Kino sprechen und doch hemmungslos aneinander vorbeireden.

Alter Meister und junger Genius

Viel näher bei sich selbst ist da doch der 89-jährige Alain Resnais, der in "Vous n'avez encore rien vu" ("Ihr habt noch gar nichts gesehen") einmal mehr zu seiner Leidenschaft fürs Theater - und zu seinen theatralischen Versuchsanordnungen im Kino - zurückkehrt. Der Film beruht auf einem Erlebnis aus dem Jahr 1942, als Resnais das Stück "Eurydice" von Jean Anouilh sah und davon so überwältigt war, dass er gleich zweimal mit dem Fahrrad um Paris herumfahren musste.

Orpheus und Eurydike, vom Sturm und Drang eines frühen Existenzialismus durchgeschüttelt - lässt sich die Wucht des damals Gefühlten in einer Kinoadaption noch einmal beschwören? Natürlich nicht. Man kann aber doch in Erinnerungen daran schwelgen, wie es Resnais mit seiner Stammtruppe um Sabine Azéma, Pierre Arditi, Lambert Wilson und Michel Piccoli tut. Zugleich ist er aber weise genug, von der jüngsten Generation des französischen Theaters eine ganz eigene Fassung des Stoffes einzufordern, diese parallel zu schneiden und dabei mit keinem Wort dazwischenzureden. Sich treu zu bleiben und dabei doch der Jugend, dem Neuen, dem Wandel nicht im Wege zu stehen - das ist hier einmal auf wundersame Weise gelungen.

Den interessantesten Fall einer Identitätssuche gab es allerdings nicht bei den alten Hasen im Wettbewerb, sondern bei einem Erstlingsfilm der Nebenreihe "Un certain regard". Brandon Cronenberg, 32 Jahre alt, ist der Sohn des kanadischen Regiemeisters David Cronenberg. Beide haben Filme in Cannes, aber der Vater ist erst am Freitag dran.

Infiziert vom Cronenberg-Virus

So konnte der Sohn mit seinem Science-Fiction-Thriller "Antiviral" als eine Art radikalverjüngte Version des Cronenberg-Genius präsentieren: Es ist, als habe sich da ein Filmemacher selbst geklont, um nahtlos und kraftvoll an sein Frühwerk anzuknüpfen. Cronenberg 2.0 macht mit jenen wunderbar bizarren Körperphantasien weiter, die sein Vater vor Jahren hinter sich ließ, um sich mehr den Rätseln der Wirklichkeit zu widmen.

Zwei Biotech-Konzerne der Zukunft vermarkten Celebrity-Viren - jeder Fan, der das nötige Kleingeld hat, kann sich mit dem Herpes oder der Grippe seines Lieblingsstars infizieren lassen. Das Geschäft boomt, es gibt einen mörderischen Konkurrenzkampf und auch längst einen Schwarzmarkt für Raubkopien und Gentech-Mutationen. Der Labortechniker Syd March (Caleb Landry Jones, eine unvergessliche Fieberversion des androgynen Dandys) infiziert sich dabei selbst, um die kostbare Ware in seinem Blut durch die Kontrollschleusen zu schmuggeln. Das Problem ist dabei nur, dass Prominente manchmal auch an rätselhaften Todesursachen sterben, die alle Welt dann vertuschen will...

All die Injektionsnadeln, die sich da in fahles Fleisch bohren, das Blut, das gezapft, analysiert oder ausgehustet wird, Bluter- und Schwindsucht-Assoziationen aus der Vergangenheit, Hightech-Stars aus den Labors der Zukunft, dazu diese Mischung aus Horror, Faszination, Verschwörungstheorien und kristallklaren Bildern - keine Frage, das ist Cronenberg so durch und durch, dass man es beim Sehen kaum fassen kann. Hat der Vater da nicht vielleicht doch seine Hände im Spiel gehabt? Oder hatte er etwa Lust, sich einfach in ein 32-jähriges und ein 69-jähriges Alter Ego zu spalten?

Die Pressemitteilung des Festivals weist Brandon Cronenberg als alleinigen Autor und Regisseur von "Antiviral" aus - das ist im großen Wechselspiel der Identitäten ja doch mal eine klare Ansage. Jetzt bleibt hinter den tausend Regenschirmen, die hier momentan den Blick auf Stars und Filmemacher verstellen, allerdings noch eine Frage zu klären: Ob es ihn wirklich gibt.

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