Scheinwerfer leuchten grell, die Wimpern des Models flattern, der Fotograf brüllt Worte der Ermutigung, und hinter den Grabsteinen glotzt das Biest. Ein Mann, ein Clochard vielleicht, ein ungebetener Gast und Beobachter. Kahler Schädel, räudige nackte Haut, ein milchiges blindes Auge, Klauen und Tatzen aus gelblich verwachsenem Horn. Inspiration des Augenblicks: Dieser Störenfried, dieser Freak muss ins Bild. Eine Assistentin wird losgeschickt. Das Biest beißt ihr zwei Finger ab, kaut sie und schluckt sie herunter. Panik, Entsetzensschreie, nur die Schöne bleibt cool und unbewegt, ihre Wimpern flattern weiter, das Biest leckt ihr die Haut mit blutiger Zunge, wirft sie über die Schulter und trägt sie hinab in die Unterwelt, in die Grüfte unter dem Friedhof Père-Lachaise.
Und dann? Dann geht der Irrsinn erst richtig los. Aber man kann davon kaum berichten, ohne sofort den Arbeitsspeicher zu sprengen, unser übliches Fassungsvermögen für Bizarres und Phantastisches, Träume und Albträume, Wunder und Wahn. Denn die Schöne, das Biest und die Unterwelt, sie sind nur Puzzlestück, Episode, Zwischenstation, nichts als ein Augenblick in diesem endlosen überwältigenden Bilderstrom, der den Titel "Holy Motors" trägt und ein Wettbewerbsfilm des Regisseurs Leos Carax ist, oder besser gesagt ein Trip an die Grenzen des Kinos und noch ein wenig darüber hinaus.
Und doch ist der Strom dieser wilden Szenen nicht beliebig. Auf der nüchternen Ebene des Erklärbaren folgt man dem Arbeitstag eines sehr beschäftigten, chronisch übermüdeten Schauspielers, der in einer weißen Stretchlimousine durch Paris chauffiert wird, sich stets neu maskiert und kostümiert und dann einen Auftritt nach dem anderen abliefert: von der björk-artigen Schwarzlicht-Performance im Roboteranzug über den Friedhofs-Horror bis hin zur Sterbeszene im Hotelzimmer.
Man hört keine Regieanweisungen, man sieht keinerlei Filmteam in Aktion - und trotzdem könnte dies die Zukunft des Kinos sein. Denn einmal gesteht der Mann, dass er den Tag verflucht, an dem die Kameras unsichtbar wurden und für immer aus dem Blick der Schauspieler verschwanden.
So folgt man nun im Wesentlichen einem Gesicht, dem hässlichen und wunderschönen, bösen und romantischen Gnomengesicht des Schauspielers Denis Lavant. Und hat mit ihm die Chance, immer wieder in die unglaublichsten Kurzfilme einzutauchen, die in Cannes allesamt Wettbewerbsfilme sein könnten und zugleich das Seltsamste und Poetischste und ja, auch Komischste sind, was man hier bisher sah.
Erlöst von den Qualen der Prätention
Zugleich ist Leos Carax erlöst von allen Verpflichtungen, diese Geschichten zu begründen oder zu psychologisieren, sie einzuführen und auszuerzählen, erlöst auch von den Qualen der Prätention, die schon bei seinen "Liebenden von Point-Neuf" aufschienen und ihn bei "Pola X", vor nunmehr dreizehn Jahren, beinah zum Verstummen brachten.
Das ist, als werfe er eine Tonnenlast von den Schultern ab: Die Energie dieses Films, die auch das Publikum elektrisiert, ist die Energie einer gewaltigen, gänzlich unerwarteten, wiedergewonnenen Freiheit.
Der nächste Trip kommt dann am Morgen danach, und das hat schon seinen Sinn. Der Brasilianer Walter Salles hat Jack Kerouacs "On the Road" verfilmt, nachdem das mehr als fünfzig Jahre lang keinem Amerikaner und auch sonst niemand gelungen ist, nicht einmal Francis Ford Coppola, dem Besitzer der Filmrechte.
Eine heillos konfuse Zeit
Und worum, bitteschön, sollte es bei der Beschwörung dieses Buches, dieser Heiligen Textrolle der Moderne, wohl gehen - wenn nicht um eine Energie, die das Publikum elektrisiert, um eine wiedergewonnene Freiheit nach den Greueln der Weltkriege, um das Abwerfen einer Tonnenlast an sexueller und politischer Repression, die noch lange unbesiegbar bleiben wird?
Denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voller Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen . . ."
Oh ja, so soll es sein, pflichtschuldigst wird das zitiert und als Programm definiert, und dann folgt ein Film, in dem alle wirklich ihr Bestes geben und kämpfen im Schweiße ihres Angesichts und ihrer ständig nackten, gierigen und lebenshungrigen Körper - und doch keine Chance haben. Keine Figur, für die man zittern würde, kein Funke, der überspringt, keine Idee, die bis in die Gegenwart hineinreicht.
Einer der Gründe ist wohl, dass diese Sturm-und-Drang-Jahre einer Schriftstellergeneration, mit Kerouac, Ginsberg und Burroughs, mit dem ewig brennenden Neal Cassady und seiner Teenage Queen, der ewig lüsternen LuAnne Henderson, eine heillos konfuse Zeit waren.
Auf den Sex beschränkt
Von 1947 an geht es zwischen New York, San Francisco, Denver und Louisiana hin und her, von den ungezählten Roadtrips dazwischen gar nicht zu reden. Schnell verliert sich der Überblick über die Affären und Freundinnen, die diversen Ehefrauen, Scheidungen und gezeugten Kinder. Bei den "Motorcycle Diaries" hatte Walter Salles Glück, da ging ein junger argentinischer Arzt auf Reisen und kam als Che Guevara an. Hier ist die Sache leider nicht so klar.
Salles und sein Autor Jose Rivera vereinfachen, wo sie können, die Schauspieler Garrett Hedlund, Sam Riley und Kristen Stewart geben alles, aber der Hauptgrund, warum das alles nicht mehr lebendig wird, sind die Frauenfiguren. Teil einer künstlerischen und sexuellen Reise zu sein, aber dann nur auf den Sex beschränkt zu bleiben, wenn nicht sogar, wie die Gattin des William S. Burroughs, als "Sitting Duck" auf die Kugel im Kopf zu warten, ohne den Hauch einer Chance auf eigene Identität - das lässt sich heute nicht mehr erzählen.
Im Gegenzug verliert auch die Feier dieser verzweifelten Männlichkeit, wie sie in der Figur des Dean Moriarty alias Neal Cassady gelingen müsste, jeden Halt, jede Wucht, jede Dringlichkeit: Ein goldgetönt sentimentaler Blick in eine Vergangenheit, von der man nicht einmal glaubt, dass es sie jemals gab.