Süddeutsche Zeitung

64. Filmfestival Cannes:Es gibt keinen Sinn

Ein Mädchen verkauft seinen schlafenden Körper, Tilda Swinton büßt für ihren mordenden Sohn und Gus Van Sant zeigt sein exzellentes Gespür für Figuren und Timing: die neuen Filme aus Cannes.

Susan Vahabzadeh

Wenn man sich als Festivalchef den Luxus erlauben kann, einen Film von Gus Van Sant in eine Nebenreihe zu stecken, dann muss, sollte man meinen, die Konkurrenz der Wettbewerbsfilme besonders hart sein - es kann sich aber auch einfach um eine Fehlentscheidung handeln. Gus Van Sant hat also in Cannes mit "Restless" die Reihe "Un Certain Regard" eröffnet, während im Wettbewerb zwei Regisseurinnen den Abend bestreiten. Ob es so herum ganz richtig ist, darüber kann man streiten.

Lynne Ramsay hat für "We Have to Talk About Kevin" jedenfalls einen sehr interessanten Ansatz, und sie hat drei sehr gute Hauptdarsteller - im Zentrum steht Tilda Swinton, die für die Missetaten ihres Sohnes büßt, und in Bruchstücken und Traumsequenzen setzen sich die Geschehnisse nach und nach zusammen. Wie sie ihre Karriere aufgab und ein Kind bekam, wie ihr Mann (John C. Reilly) nicht sehen will, wie schwierig dieses Kind ist, wie dieses Kind seine Eltern manipuliert, sich zum Satansbraten und letztlich zum Mörder entwickelt.

Für all die Zweifel, ob die Geschehnisse nicht Konsequenz ihres eigenen Versagens sind, braucht es eine Schauspielerin vom Kaliber Tilda Swintons, die einfach nur dasitzen und doch die Leinwand mit Emotionen füllen kann. So gleicht sie aus, dass Ramsay manchmal zuviel erzählt, die Macken des Kindes übertreibt, Erklärungen nachreicht für Dinge, die man längst verstanden hat.

Die australische Autorin Julia Leigh gibt mit "Sleeping Beauty" immerhin hier ihr Regiedebüt. Die Geschichte von Lucy (Emily Browning), die ihren schlafenden Körper verkauft, ist aber eher spekulativ, ein wenig voyeuristisch und unausgegoren. Für ein junges Mädchen, das einen bescheuerten Job nach dem anderen annehmen muss, um die Miete zu bezahlen, ist der Reiz, sich von zahlungskräftigen alten Männern begrapschen zu lassen, vielleicht wirklich hoch; aber spätestens, wenn Lucy ihre erste Gage anzündet, wirkt Leighs Film nur noch wie eine sehr wacklige Konstruktion.

Und das ist eben keine Konkurrenz für Gus Van Sants unendlich traurige Geschichte vom Tod, für sein Gespür für Figuren und für Timing. Seine Filme sind Porträts, seine Charakterisierungen sind genau, man glaubt ihnen jedes Wort - und doch schwebt über allem der Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Zwei Halbwüchsige lernen sich kennen am Anfang von "Restless", auf einer Beerdigung, Annabel (Mia Wasikowska), die bald an Krebs sterben wird, und Enoch (Dennis Hoppers Sohn Henry), der seine Eltern bei einem Unfall verlor.

Wie der verletzte Enoch, statt einem weiteren Verlust aus dem Weg zu gehen, sich auf das Mädchen einlässt - das ist vielleicht wirklich etwas, was man tut, wenn man so jung ist. Darwin, erklärt Annabel Enoch, ist ihr großer Held, die Evolution fasziniert sie, der Versuch, zu verstehen, wie alles zusammenhängt. Als könnte sie irgendeinen Kontext finden für das, was man Schicksal nennt; es wird aber nur ein Ende geben, möglicherweise Erlösung - und keinen Sinn.

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SZ vom 13.05.2011/afis/rus
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