63. Filmfestival San Sebastián:Handicap im Heimspiel

Festivalzentrum "Kursaal" in San Sebastian.

Bunte Welt: das Festivalzentrum "Kursaal" in San Sebastian.

(Foto: imago/CordonPress)

Filme aus der spanischsprachigen Welt sind derzeit en vogue. Doch ausgerechnet das Heimfestival im baskischen San Sebastián profitiert davon weniger als die Konkurrenz.

Von Paul Katzenberger

Es ist ein Jammer, wenn andere in einem Bereich punkten, der eigentlich seit Jahrzehnten als eigene Domäne gilt. Dem Filmfestival San Sebastián ist es in diesem Jahr so ergangen.

Es ist unbestritten das größte und wichtigste Filmfestival für die spanischsprachige Welt. Und genau diese Region sorgte in diesem Jahr bei allen Großfestivals für Furore: Bei der Berlinale etwa gingen ein "Silberner Bär" nach Chile und einer nach Guatemala. Und in Cannes waren die Nebenreihen "Un certain regard" und "Quinzaine des réalisateurs" voll mit herausragenden Filmen aus Lateinamerika.

Für die Organisatoren bedeutete dieser Erfolg allerdings, dass sie mit einem Handicap in die 63. Auflage des Festivals gingen: Die besten Filme aus dem eigenen Sprachraum standen schlicht und einfach nicht mehr zur Verfügung. Nur eine Woche vor dem Start in San Sebastián war etwa der "Goldene Löwe" nach Venezuela gegangen (an Lorenzo Vigas für "From Afar"), also in ein Land, für das sich San Sebastián vorrangig für zuständig hält. Erst vor zwei Jahren vergab es die "Goldene Muschel" dorthin (an Mariana Rondón für "Pelo Malo").

In diesem Jahr herrschte in San Sebastián in Bezug auf den spanischsprachigen Film nun aber eher das Prinzip Masse statt Klasse: Mit elf von 22 Wettbewerbsbeiträgen waren spanische Filme zwar geradezu übermächtig repräsentiert, doch selbst in diesem - im Vergleich zu 2014 - schwachen Wettbewerb, stach ihre Klasse weniger heraus als in den Vorjahren. Immerhin stimmte es versöhnlich, dass die vielen spanischsprachigen Filme, die woanders ihre Premiere gefeiert hatten, hier noch einmal fast allesamt in den umso besser besetzten Nebenreihen gezeigt wurden.

Einen Knüller aus Spanien hatte das Festival allerdings doch anzubieten: den neuen Thriller "Regression" von Spaniens Meister des Genrekinos, Alejandro Amenábar, der allerdings außer Konkurrenz gezeigt wurde. Der Oscar-Preisträger ("Das Meer in mir") hielt es genau anders herum wie seine prominenten Landsleute - er zog San Sebstián den anderen Großfestivals vor. Zum ersten Mal in seiner knapp 20-jährigen Karriere kam er für die Weltpremiere eines neuen Filmes hierher.

Doch obwohl "Regression" im Wesentlichen eine spanische Produktion ist, wirkte der bewusst zurückhaltende Film mit Ethan Hawke und Emma Watson in den Hauptrollen eher wie bestes amerikanisches Genre-Kino aus den Siebzigerjahren. Die Story beginnt wie klassisches Horrorkino, wandelt sich zu einem psychologischen Thriller und endet als persönliches Drama.

Subtiler Horror

Im Mittelpunkt steht der amerikanische Cop Bruce Kenner (Ethan Hawke), der mit einem Missbrauchsfall konfrontiert wird. Ein Vater (David Dencik) räumt die Tat an seiner Tochter (Emma Watson) zwar ein, kann sich aber an nichts erinnern.

Alejandro Amenabar in San Sebastián.

Gern gesehen in San Sebastián: Erstmals feierte der Oscar-Preisträger Alejandro Amenabar in dem spanischen Seebad eine Weltpremiere.

(Foto: AFP)

Wie schon bei seinem Spielfilmdebüt "Faszination des Grauens" von 1996 erzeugt Amenábar in "Regression" eine Atmosphäre der Beklemmung und des subtilen Horrors, in der die Protagonisten nach einer ambivalenten Wahrheit suchen. Am Schluss schafft es der Film sogar, ein beliebtes Motiv einfach umzudrehen: Anstatt all die Abgründe unter der Oberfläche der Normalität offenzulegen, gibt er die profane Normalität unter einer bizarren Oberfläche preis.

Verneigung vor dem Leben

Im Vergleich dazu wirkten die spanischen Wettbewerbsfilme "Un dia perfecte per volar" über einen Vater, der mit seinem kleinen Sohn einen selbst gebastelten Drachen steigen lässt, oder "El apostata" über einen nichtsnutzigen Twen als Sohn arg belanglos.

63. Filmfestival San Sebastián: Auch Bäume sind mitunter bunt im Baskenland: Szene aus "Amama".

Auch Bäume sind mitunter bunt im Baskenland: Szene aus "Amama".

(Foto: Festival)

Großartige Bilder bot der Zweitlings-Spielfilm "Amama" ("Oma") des Basken Asier Altuna über den Generationenkonflikt in einem Dorf in den Bergen des Baskenlandes, der die Werte überlieferter Traditionen feiert. "Amama" ist allerdings nicht für ein großes Publikum bestimmt, sondern poetisches Kunstkino für Puristen, das die Jury unter dem Vorsitz der dänischen Schauspielerin Paprika Steen nicht überzeugen konnte.

Die "Silberne Muschel" für die beste Kameraführung, für die "Amama" am ehesten in Frage gekommen wäre, ergatterte schließlich Manu Dacosse für seine Bilder im französischen Beitrag "Evolution" von Lucile Hadzihalilovic - einer eigenwilligen Kombination aus Science Fiction und Horror.

Gefeiert wurde die Tragikomödie "Truman" des Katalanen Cesc Gay, die tatsächlich einen der Höhepunkte des Festivals markierte. In dem Film über Freundschaft und Abschied beweisen die Darsteller Javier Cámara und Ricardo Darin in den Rollen der beiden Freunde Tomás und Julián ihre ganze Könnerschaft.

Verrannt im Narzissmus

Wie Tomás mit stoischer Ruhe die Launen des sterbenskranken Julián hinnimmt, während dieser mit knochentrockener Ironie seiner verzweifelten Lage komische Aspekte abgewinnen kann, war eine Verneigung vor dem Leben. Die Jury belohnte sie zu Recht mit der Silbernen Muschel für den besten männlichen Hauptdarsteller, die an beide Schauspieler ging.

63. Filmfestival San Sebastián: Helfen als Ausdruck von Narzissmus: Vincent Lindon als NGO-Chef Jacques Arnault in "Die weißen Ritter".

Helfen als Ausdruck von Narzissmus: Vincent Lindon als NGO-Chef Jacques Arnault in "Die weißen Ritter".

(Foto: Festival)

Auch bei den wichtigsten Entscheidungen lag die Jury richtig: Dass etwa die "Silberne Muschel" für die beste Regie an den Belgier Joachim Lafosse für dessen Beitrag "Les Chevaliers Blancs" ("Die weißen Ritter") ging, war hochverdient. Das Drama, das auf tatsächlichen Ereignissen beruht, setzt sich mit den widersprüchlichen Folgen westlichen Eingreifens in der Dritten Welt auseinander. Darf man sich selbst belügen und alle anderen mit, um vermeintliche Hilfe zu leisten?

Das ist eine der Fragen, die der Film erst offen lässt und doch am Schluss in einer Weise verneint, die keinen Widerspruch zulässt. Vincent Lindon, in Cannes in diesem Jahr mit der Darsteller-Palme ausgezeichnet, brilliert hier nun in der Rolle eines charismatischen Anführers von französischen NGO-Aktivisten, denen in ihrem Narzissmus jedes Verständnis dafür abhanden kommt, dass sie sich bei ihrer Mission im Tschad total verrennen.

Runar Runarsson beim Filmfestvial San Sebastian.

Glücklich über die "Goldene Muschel": Runar Runarsson bei der Abschlusszeremonie in San Sebastián.

(Foto: dpa)

Manche Beobachter waren überrascht vom Jury-Entscheid, das Sozialdrama "Sparrows" ("Spatzen") von Rúnar Rúnarsson mit der "Goldenen Muschel" auszuzeichnen. Denn es ist erst der zweite Spielfilm des Isländers. Doch die Auszeichnung bestätigte nur den frühen Favoritenstatus, den der Film, der bereits am zweiten Tag gezeigt wurde, bei vielen Beobachtern während des ganzen Festivals hatte.

In dem akribisch konstruierten Coming-of-age-Film erzählt Rúnarsson die Geschichte des 16-jährigen Ari (Atli Oskar Fjalarsson), der von seiner geschiedenen Mutter aus Reykjavik zu seinem Vater Gunnar (Ingvar Eggert Sigurðsson) geschickt wird. Das Problem für Ari: Sein Vater lebt wieder bei seiner Mutter in einem Dorf an der gottverlassenen Westküste Islands und hat ein Alkoholproblem. Ganz ohne Problemfilm-Klischees und dem Sinn für die kleinen Nuancen, die im Leben oft den großen Unterschied ausmachen, zeigt Rúnarsson auf, wie Ari in diese Welt hineinfindet.

Ein wichtiger Akteur ist dabei die raue Natur des nordischen Inselstaates, die Kamerafrau Sophia Olsson in spektakulären Bildern einfängt.

Zum ersten Mal seit drei Jahren ging der Hauptpreis des Festivals damit in ein nichtspanischsprachiges Land. Aber so ist es, wenn das eigene Kino so gut wird, dass es glaubt, in die große weite Welt hinausziehen zu müssen, nach Berlin, Venedig oder Cannes.

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