61. Internationales Filmfestival San Sebastián:Sorgen der Fürsorge

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Lucio Gimenez Cacho (rechts) und Danae Reynaud Romero in San Sebastián: In dem mexikanischen Film "Club Sandwich" zeigen sie gekonnt das Drama von Mutter und Sohn. (Foto: Getty Images)

Viel Wahrheit über die Welt findet sich in der Familie - dem wichtigsten Fixpunkt für die meisten Menschen. Beim Filmfestival in San Sebastián punkteten vor allem Filme, die kluge Fragen zu Töchtern und Söhnen und ihren Müttern und Vätern stellten.

Von Paul Katzenberger, San Sebastián

Wie sehr sich die Welt beschleunigt hat, lässt sich besonders gut dort erahnen, wo eigentlich Entschleunigung angesagt ist. Das baskische Seebad San Sebastián dient den Müßiggängern des spanischen Adels und der europäischen Bourgeoisie schon seit 150 Jahren als Ort der Sommerfrische, doch dass es in Paris neuerdings schick ist, für ein verlängertes Erholungs-Wochenende in die 900 Kilometer weit entfernte Stadt an der Concha-Bucht per Hochgeschwindigkeitszug zu rasen, wäre ohne die französischen TGVs nicht denkbar.

Donostia, wie San Sebastián auf baskisch heißt, ist mit seinen vielen Sterne-Restaurants, seinen unwiderstehlichen Tapas-Bars und einem bei diesen Qualitäten erstaunlichen Understatement und viel südländischer Gelassenheit zu einem "Lieu de loisir" für Nordfranzosen erblüht. Die können sich dafür bei jenen Beschleunigungstechnologien bedanken, die sie oft erst erholungsreif machen.

Understatement und Entschleunigung waren auch die Stichworte beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián bei seiner 61. Austragung. Der Promi-Faktor war gering - das Spardiktat der spanischen Regierung zwang Festivaldirektor Jose Luis Rebordinos dazu, Hollywood-Stars nur sehr sparsam einzuladen: "Für uns besteht leider inzwischen eine gewisse Unsicherheit darüber, wie viel Geld uns am Schluss zur Verfügung steht. Das kann bedeuten, dass Vereinbarungen mit Hollywood-Stars nicht zustande kommen, weil die Reisekosten sehr hoch sind", erklärte Rebordinos.

Die ganze Mutterliebe in einer Antwort

Dem unprätentiösen Charme des A-Festivals tat die Selbstbescheidung allerdings gut: Hugh Jackman, der neben Annette Bening als einziger Mega-Star nach San Sebastián gekommen war, um dort den Preis für sein Lebenswerk entgegen zu nehmen, fühlte sich abseits vom Starrummel offensichtlich pudelwohl. Die örtliche Tageszeitung Diario Vasco beschied dem "X-Men"-Star große Lockerheit, weil er sich gemütlich radelnd durch die Stadt bewegte und sich vor seinem Gang in das Festivalpalais unter die Menschen in den Tapas-Bars mischte.

Auch im durchaus starken Wettbewerb des Festivals war Langsamkeit Trumpf. In dem mexikanischen Beitrag "Club Sandwich" von Fernando Eimbcke schaut das Publikum Mutter Paloma (Maria Renée Prudencio) und dem halbwüchsigen Sohn Hector (Lucio Giménez Cacho) minutenlang dabei zu, wie sie sich im Urlaub gegenseitig mit Sonnenschutz eincremen oder tägliche Verrichtungen wie den Toilettengang mit den stets gleichen Foppereien kommentieren.

Jeder kennt so etwas aus der eigenen Familie, doch glücklicherweise riss Eimbcke die Zuschauer gerade in dem Augenblick aus dem Halbschlaf, als sie sich zu fragen begannen, was ihnen da noch Neues gezeigt werden soll: "Bin ich sexy", fragt Hector Ramona, die zwar ausweichend antwortet, aber doch so, dass sie ihre ganze Mutterliebe in die Waagschale wirft.

Große Tragödien in normalen Familien

Um nichts weniger als diese elementare Liebe geht es in "Club Sandwich", um deren Bedingungslosigkeit, zu der auch das Loslassen-Können gehört. Ist Paloma in der Lage, Hector ein Stück weit freizugeben, nachdem er die gleichaltrige Jazmin (Danae Reynaud) am Pool kennenlernt? Sie ist es - sogar mit Bravour und doch unter seelischen Schmerzen, die Eimbcke mit viel Blick für's Detail und am Ende sogar mit großem Humor aufzuzeigen weiß. Die Jury unter dem amerikanischen Regisseur Todd Haynes honorierte seine Leistung mit der "Silbernen Muschel" für die beste Regie.

Die großen Tragödien, die sich in jeder noch so normalen Familien abspielen, waren auch das Thema von Götz Spielmann und seinem neuen Drama "Oktober November".

Ganz im Gegensatz zu Eimbcke, der das Thema Sexualität behutsam entwickelt, packt der Österreicher gleich in die erste Szene seiner Geschichte eine kräftige Portion Erotik: Die attraktive und erfolgreiche Fernsehschauspielerin Sonja (Nora von Waldstätten) bespricht mit ihrem Kollegen Jan (Sebastian Hülk) in einem Restaurant den gemeinsamen Auftritt als Liebespaar in einer neuen Produktion. Es knistert zwischen den beiden am Tisch spürbar, doch das ist es nicht, worauf Spielmann hinaus will. Vielmehr wird bald klar, dass Sonja niemanden richtig an sich heranlassen kann. Sie wird bewundert aber fühlt sich nicht geliebt.

Zu sich selbst und damit zur echten Zuneigung anderer findet Sonja erst in der beschaulichen Welt ihres österreichischen Heimatdorfes, in das sie reist, weil ihr Vater (Peter Simonitsch) schwer erkrankt ist. Der raue Patriarch fühlt, dass er bald sterben wird, und das verändert alles: Die eingeschliffenen Verhaltensmuster der Indifferenz zwischen ihm, der fortgegangenen Tochter Sonja und ihrer daheimgebliebenen Schwester Verena (Ursula Strauss) brechen auf - ein neues Kapitel kann beginnen.

Damit endet der Film in voller Konsequenz: "Ich will die Welt nicht erklären, sondern Fragen stellen", sagte Regisseur Spielmann in San Sebastián zu seinem Drama, das in seiner ruhigen Erzählweise im Kopf haften blieb.

Es sei gerade diese Langsamkeit gewesen, die ihn an "Oktober November" so gereizt habe, erklärte Sebastian Koch, der in dem Film einen abgeklärten Landarzt spielt: "Schuss. Schnitt. Gegenschuss. Das Kino ist mir zu schnell geworden. Ich finde es gut, dass jemand mal etwas Neues wagt und einer Geschichte den Raum gibt, den das Thema verdient."

Koch teilt seine Kritik an den immer schnelleren aber eigentlich althergebrachten Schnitttechniken mit dem britischen Regisseur Mike Figgis ("Leaving Las Vegas"), der in seinen neueren Filmen mit extrem langen Einstellungen und Split Screens experimentiert, was Koch womöglich dazu veranlasste, im vergangenen Jahr in Figgis' Thriller "Suspension of Disbelieve" die Hauptrolle zu übernehmen.

Begründete Ambivalenz

Doch Split Screens, also mehrere laufende Szenen parallel auf der Leinwand, sind für sich genommen noch keine Innovation. Dafür müssen sie von einer geeigneten Kameraarbeit flankiert werden, was sich in San Sebastián an Bertrand Taverniers Komödie "Quai d'Orsay" gut studieren ließ: Die rasante Polit-Satire über den gut aussehenden und austrainierten aber inkompetenten Außenminister Alexandre Taiilard de Vorms (Thierry Lhermitte) gewinnt durch die eingestreuten Split Screens zwar noch mehr an Fahrt, aber leider nicht an Gewicht. Ein Franzose, der wie Tavernier Vollgas gibt, war in San Sebastián in diesem Jahr fehl am Platz, das galt gerade für den Wettbewerb, dessen langsame Filme die stärksten Akzente setzten.

Die Entscheidung der Jury, Taverniers Adaption des gleichnamigen Comics von Antonin Baudry und Zeichner Christophe Blain mit dem Preis für das beste Drehbuch auszuzeichnen, war daher fragwürdig. Die dick aufgetragene Erklärung, dass die größten Blender in der Politik mitunter die steilsten Karrieren machen, ist spätestens seit dem Abgang von Karl-Theodor zu Guttenberg keine originelle Erkenntnis mehr.

Statt wohlfeile Gewissheiten zu verbreiten, blieb Mariana Rondón glücklicherweise beim Fragen. Die Missstände, die sie in ihrer Heimat Venezuela vorfindet, wiegen deutlich schwerer als die Schaumschlägereien im französischen Politikbetrieb. Gerade deswegen verbat sich die 47-Jährige in ihrem dritten Spielfilm "Pelo Malo" ("Schlechtes Haar") eine allzu simple Empfehlung für eine Mutter, die entdeckt, dass ihr neunjähriger Sohn homosexuell sein dürfte.

Fruchtbare Entspannung am Meer

Bei uns hieße der politisch korrekte Rat, die sexuelle Identität des Kindes anzuerkennen. Doch der Rassismus und die sozio-ökonomische Spaltung wirken in einer Macho-Gesellschaft wie Venezuela viel zu ausgrenzend, um Patentrezepte dieser Art einer dortigen Mutter einfach ans Herz zu legen. Rondón hält in ihrem neorealistischen Drama bis zum Abspann eine begründete Ambivalenz durch und wurde dafür mit dem Hauptpreis des Festivals, der "Goldenen Muschel" belohnt.

Der Besuch des Festivals in San Sebastián wurde teilweise vom Veranstalter unterstützt.

Regisseurin Mariana Rondon mit der "Goldenen Muschel". (Foto: AFP)
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