61. Filmfestival in Cannes:Das Quäntchen Magie

Angelina Jolie als Über-Mama und der Mut zur Langsamkeit: Clint Eastwood und Raymond Depardon erweisen sich in Cannes mit ihren Filmen erneut als Regisseure der Meisterklasse.

Susan Vahabzadeh

Man kann sich ja, wenn es regnet und kalt ist und die Stadt leerer und leiser als sonst, aber immer noch zu laut, mal wundern, ob Cannes den ungeheuren logistischen Aufwand, seine Kosten, die Energie, die in das Festival gesteckt wird, wirklich wert ist. Die Antwort findet man nur auf der Leinwand. Erst die Brüder Dardenne mit "Le silence de Lorna", dann Clint Eastwood mit "The Exchange", zwei Filme, in denen der Halt ein Kind ist, das gar nicht da ist - und plötzlich ist jenes Quäntchen Magie am Werk, das alle Sinnfragen klärt.

Eastwoods Ankunft wurde fiebrig ersehnt, aber anders als viele Filme, die unter der Last der Erwartungen zusammenbrechen, halten seine allen Stürmen stand. Es arbeitet ein seltsames Phänomen der Ungläubigkeit für ihn, leise Zweifel, ob es wirklich sein kann, dass der Mann ein Meisterwerk nach dem anderen produziert.

"The Exchange", der einen schon mit den ersten Bildern, den ersten Tönen von Eastwoods Musik gefangennimmt, basiert auf einer wahren Geschichte, die im Jahr 1928 beginnt, in Los Angeles - der kriminelle Korruptionssumpf und die Skandale dieser Ära haben das Kino schon oft inspiriert. Christine Collins, im Film verkörpert von Angelina Jolie, wurde von ihrem Mann verlassen, noch bevor ihr Sohn auf die Welt kam, muss für beide sorgen. Eine anständige Frau, die ihren Chef stolz macht auf seine Entscheidung, Frauen einzustellen, ihrem Sohn beibringt, nie einen Kampf zu beginnen - aber jeden durchzustehen, dem er nicht ausweichen kann.

Eines Tages, als sie von der Arbeit zurückkommt, ist der Kleine nicht mehr da. Nun beginnt ein Kampf, den sie durchstehen muss - es ist Zeit, nicht mehr anständig und folgsam zu sein.

Mit Code 12 gegen die Frauen

Die Polizei, mehr mit Machterhalt und Selbstdarstellung beschäftigt als mit der Aufklärung von Verbrechen, präsentiert ihr bald einen kleinen Jungen, der ihr Sohn Walter sein soll - sie läuft auf ihn zu am Bahnsteig, sieht ihn, zuckt zurück: Das ist nicht ihr Kind.

Christine will die Polizei um Hilfe bitten, wird mundtot gemacht, man erklärt sie für verrückt und sperrt sie in eine psychiatrische Anstalt, wo sie auf lauter Frauen trifft, die der Code 12 hierher brachte - hier werden Frauen verwahrt, die ihre Klappe nicht halten wollen. Aber draußen baut sich Unmut auf, der Presbyterianer-Pater Briegleb (John Malkovich) mobilisiert Anwälte und Demonstranten, und langsam entwirrt sich einer der furchtbarsten Serienmordfälle in der Geschichte der USA.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Eine problematische Enthüllungsgeschichte über die Macht der italienischen Mafia und die Wiederentdeckung der Langsamkeit.

Das Quäntchen Magie

Eastwoods Los Angeles ist schmuddelig, nasskalt und unwirtlich, keine sonnige Stadt der Engel, in blassen Farben gehalten bis auf den roten Mund von Angelina Jolie; aber die Energie und der Widerstandsgeist, die hier entstehen, machen "The Exchange" dann doch zum hoffnungsvollsten Film, den Eastwood seit langem gemacht hat. Eine Geschichte, die durchaus in die Gegenwart verweist - es ist die eines Staates, der seinen Bürgern ein X für ein U vormachen will, bis das filigrane Autoritätsgebilde zerbröselt, weil einer nicht mehr lügt und die anderen nicht mehr glauben.

Eastwood liebt es, auf Fragen nach der Aktualität seiner Filme nebulöse Antworten zu geben, und nach der Aufführung von "The Exchange" sagte er also mit funkelnden Augen, er habe ja nur von den Zwanzigern erzählen wollen - und fügt dann hinzu, es gehe im Übrigen um Leute, die nicht wiedergewählt wurden. Der Austausch, den der Titel signalisiert, betraf nicht nur das Kind, sondern auch die politisch Verantwortlichen der Stadt.

Immer etwas ganz Grundsätzliches

Eastwood ist so einzigartig, weil er immer etwas ganz Grundsätzliches über die Beschaffenheit der Welt zu erzählen scheint, einen damit ganz tief berührt, aber vordergründig oder einfach ist nichts davon.

Matteo Garrone hat mit dem italienischen Wettbewerbsbeitrag "Gomorra" die Gegenwart ganz direkt angesprochen - und irgendwie spürt man in seinem Film, dass das Kino doch nach Umwegen verlangt. Ein Sachbuch, das im Kino nur zum Spielfilm werden konnte - kein Zeuge würde es, aus Angst um sein Leben, wagen, vor eine dokumentierende Kamera zu treten.

Das Buch, akribisch recherchierte Enthüllungsgeschichten über die Macht der Camorra - wie Kinder in den Drogenhandel geraten, die Mafia die Abfallwirtschaft und die Textilindustrie übernahm -, war ein Bestseller in Italien, traf auf Wut und Empörung, aber ein Film hat nicht draus werden wollen. Vielleicht ist man, hat man diese Skandalgeschichten einmal gehört, schon genug empört. Garrone erzählt sie nach, ineinander verwoben, aber er hat ihnen nichts hinzuzufügen.

Letzte Zeugen aussterbender Metiers

Mit wie wenigen Mitteln man der Wirklichkeit eine Geschichte abringen kann, zeigt Raymond Depardon, dessen "La vie moderne" in "Un certain regard" zu sehen war, der neueste Teil seiner Dokumentarfilm-Reihe "Profils paysans" - über Bauern und Schäfer, letzte Zeugen aussterbender Metiers. Wenn er ihnen ganz langsam bei ihren Verrichtungen zusieht, die Kamera lange, unbebaute Feldwege entlangstreifen lässt, der Liebe zum Land nachspürt, mit denen manche seiner altgewordenen Helden sich an Aufgaben festhalten, die heutzutage keiner mehr übernehmen will - dann schmerzt es einen ein wenig für die Welt von morgen.

Was willst du später mal werden, fragt Depardon aus dem Off einen kleinen Jungen, den Sohn auf einem der wenigen Höfe, die noch einen Nachfolger finden konnten. Bauer, antwortet er, wie sein Vater, und die Mutter sagt leise: Das wird es dann nicht mehr geben. Die Genügsamkeit, mit der Depardons Protagonisten sich ihr einfaches Leben bewahren wollen, ist die andere Seite einer Welt, in der die meisten immer mehr wollen, mehr Geld, Fortschritt, Technik, Luxus. Auch das ist Kinomagie, wenn ein Film von dem handelt, was man nicht sieht.

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