Süddeutsche Zeitung

600 Jahre Wiederentdeckung von "De rerum natura":Feiert Lukrez statt Luther

Deutschland feiert den Reformator Martin Luther - aber nicht jeder mag ihn bejubeln. Als Alternative bietet sich ein anderes Jubiläum an: Vor 600 Jahren wurde ein antikes Gedicht wiederentdeckt, dessen Bedeutung für die moderne Welt kaum zu überschätzen ist.

Von Markus C. Schulte von Drach

"Also, nun kommt der Sinn des Lebens. Nun, es ist wirklich nichts Besonderes. Versuch einfach, nett zu den Leuten zu sein, vermeide fettes Essen, lies ab und zu ein gutes Buch, lass Dich mal besuchen und versuch mit allen Rassen und Nationen in Frieden und Harmonie zu leben."

Monty Python (Der Sinn des Lebens 1983)

Deutschland feiert mit dem offiziellen "Reformationstag" am 31. Oktober Martin Luther - schließlich hat der vor 500 Jahren einen Prozess in Gang gesetzt, der nicht nur zur Spaltung der Kirche in Europa führte, sondern langfristig auch zu mehr religiöser Freiheit und einer zunehmenden Trennung von Religion und Staat.

Andererseits liegt der eine oder andere Schatten auf der historischen Figur Martin Luthers. Er trat auch als Juden- und Bauernfeind auf, und hatte kein Problem mit der weltlichen Macht der Fürsten. Am Übergang zur Neuzeit stand er noch mit mehr als einem Bein fest im Mittelalter.

Wem nun der "Reformationstag" nicht viel bedeutet, der könnte ein anderes Jubiläum zum Anlass nehmen, um zu feiern, dass in Europa und andernorts moderne, fortschrittliche Gesellschaften entstanden sind.

1417 wurde in Deutschland eine Schrift wieder entdeckt, deren Bedeutung für die Aufklärung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Es ist ein Gedicht, verfasst von dem Römer Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez, aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeit: "De rerum natura". Es ist einer der großartigsten und wirkmächtigsten Texte der Weltgeschichte.

Vor 600 Jahren spürte der italienische Humanist und "Bücherjäger" Poggio Bracciolini die Handschrift mit mehr als 7800 Versen über "Die Natur der Dinge" auf - vermutlich in der Bibliothek der Benediktinerabtei Fulda. Es war ein ungeheures Glück, dass das Manuskript zu dieser Zeit noch existierte - und es war ein Glück, dass es kopiert wurde, bevor es schließlich doch verschwand - möglicherweise während des Dreißigjährigen Krieges, als das Kloster geplündert wurde.

Auch wenn durch dieses Gedicht nicht unmittelbar eine Revolution ausgelöst wurde, befeuerte es die langsame, revolutionäre Entwicklung hin zu unserem modernen Weltbild. Wichtige Geistesgrößen - von Montaigne über Voltaire und Goethe bis zum amerikanischen Gründervater Thomas Jefferson - setzten sich intensiv mit dem Bild der Welt auseinander, das der Dichter beschrieb.

Die Götter kümmern sich nicht, der Tod berührt uns nicht

Lukrez erklärte in seinem Gedicht die Philosophie des Epikur von Samos (341-271 vor unserer Zeit). Und die war (und ist) für gläubige Christen eine einzige Ketzerei: Die Götter, so Epikur, mag es geben, aber wir sind ihnen gleichgültig, und so müssen auch wir uns nicht um sie kümmern oder glauben, sie ließen sich durch Gebete oder Opfer für uns vereinnahmen. Denn nirgendwo führt die Suche nach ihrem Eingreifen oder nach Wundern zum Erfolg. Alles lässt sich mit natürlichen Ursachen erklären.

Das widersprach dem Bild der monotheistischen Religionen von ihrem Gott als liebend, fordernd und strafend natürlich völlig.

Auch ein Jenseits, in das wir nach dem Tode gelangen könnten, existiere nicht, so erklärte Lukrez. Denn alles - von den Sternen bis zum kleinsten Lebewesen - bestehe aus winzigen unsterblichen Teilchen in einer unendlichen Leere. Teilchen, die zusammenstießen, sich verbänden und wieder trennten, ohne den Plan eines Schöpfers. Das geschehe aber über eine so lange Zeit, dass sie schließlich jene Formen bildeten, die erst unser Universum entstehen ließen - und dann alles, was darin bis heute existiert.

Nicht einmal eine unsterbliche Seele gibt es nach Epikur. Vielmehr ist sie, genau wie der Geist, aus dem gleichen Stoff wie der Körper, und zerfällt mit dem Tode genau wie dieser.

Ist der Tod aber tatsächlich das Ende, so tröstete Lukrez seine Leser, kann er uns auch nicht mehr berühren - schließlich gibt es dann keine Lust, aber auch kein Leid mehr, und keine Sehnsucht nach irgendetwas. Wenn wir aber nur dieses eine Leben haben, so sollten wir versuchen, es möglichst zu genießen, und allen Schmerz und alles Leid vermeiden.

"Das größte Schwein" unter den Naturphilosophen

Das widersprach schon zu Lukrez' Zeit dem Geiste Roms - eines Roms der Bürgerkriege und Gladiatorenkämpfe, in der Kampfgeist und das Ertragen von Schmerzen als Tugend galten. Epikureer wurden als Hedonisten, als genusssüchtig verunglimpft. Der Dichter Horaz, der die Philosophie Epikurs in seinem berühmten "Carpe diem" zusammenfasste, bezeichnete sich selbst deshalb ironisch als "Schwein aus Epikurs Herde". Und Diogenes Laertios, Historiker im dritten Jahrhundert, beschrieb Epikur denn auch als "das größte Schwein" unter den Naturphilosophen.

Die Wirkung, die Lukrez' Gedicht haben würde, konnte der Bücherjäger Bracciolini bei seiner Entdeckung noch nicht wissen - und es wäre vielleicht auch nicht in seinem Sinne gewesen. E war gläubiger Katholik, sogar ehemaliger Sekretär des gerade auf dem Konzil von Konstanz abgesetzten (Gegen-)Papstes Johannes XXIII. Aber als Humanist war er auf der Suche nach Werken antiker Autoren. Die Gelehrten und Autoren seiner Zeit, Männer wie Petrarca und Boccaccio, hatten im Jahrhundert zuvor begonnen, sich die kulturellen Leistungen der griechischen und römischen Antike zum Vorbild zu nehmen.

Zwar waren etwa der Philosoph Platon und der Historiker Plinius der Ältere nie vergessen worden - ihre Werke waren für das christliche Weltbild akzeptabel gewesen. Doch die Schriften der meisten anderen alten griechischen und römischen Gelehrten und Künstler waren den christlichen Kirchenvätern ein unerträglicher Dorn im Auge gewesen. Heidnisch, verwerflich, in ihrer verführerischen Überzeugungskraft gefährlich für den jungen christlichen Glauben.

Verpönt, verdrängt und verboten verschwand unter ihrem Einfluss ein Schatz an Wissen über Natur, Geschichte und Staatskunst, Philosophie und Dichtkunst aus dem öffentlichen Bewusstsein. Lediglich in den Klosterbibliotheken wurde manches aufbewahrt, kopiert und so erhalten - hinter verschlossenen Türen, so dass es keine Gefahr für die Gläubigen darstellen konnte. (Daran erinnert etwa der Roman "Der Name der Rose" von Umberto Eco.)

Überdauern konnte ein Teil dieses Schatzes auch - allerdings in arabischer Sprache - in den Bibliotheken der Städte in den von muslimischen "Mauren" eroberten europäischen Gebieten vor allem in Spanien und auf Sizilien. Hier stieß eine Handvoll christlicher Gelehrter nach der Rückeroberung maurischer Städte auf die Handschriften und übersetzten sie nach und nach zurück in ihre ursprünglichen Sprachen.

Auf der Jagd nach alten Büchern

In der Zeit, die wir heute als "Renaissance" - die "Wiedergeburt der Antike" - bezeichnen, löste die so wieder entdeckte Kunst und das Wissen der Antike zunehmend Begeisterung aus. Der gebildete - insbesondere der sprachlich gebildete - Mensch entwickelte sich zum Ideal, genau wie die möglichst naturgetreue Abbildung der Umwelt durch Maler und Bildhauer. Selbst Päpste sahen bald kein Problem mehr im Auftreten heidnischer Götter in den antiken Schriften - eine Konkurrenz für ihren einen Gott stellten sie nicht mehr dar.

Unter den Humanisten war das Bedürfnis entstanden, immer mehr antike Werke aufzuspüren. So kam es, dass Poggio Bracciolini 1417 in Deutschland auf das Gedicht des Lukrez stieß. Der Name des Dichters war bekannt, etwa weil Ovid seine Dichtkunst gelobt hatte. Außerdem gab es einen Absatz in der Chronik des bedeutenden Kirchenvaters Hieronymus (347 - 420). Der hatte für das Jahr 94 vor unserer Zeit notiert: "Der Dichter Titus Lucretius wurde geboren. Nachdem ihn ein Liebestrank in den Wahnsinn stürzte, und er in den Pausen seines Wahns mehrere Bücher geschrieben hatte, die später Cicero durchsah, tötete er sich in seinem vierundvierzigsten Lebensjahr mit eigener Hand."

Bücherjäger Bracciolini ließ eine Abschrift des Manuskripts vornehmen und verbreitete das Gedicht. Vermutlich, so schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt von der Harvard University in seinem Buch "Die Wende", tat der Italiener dies ohne zu wissen, dass er im Begriff war, "ein Werk in die Welt zu entlassen, das sein gesamtes geistiges Universum in Frage stellte".

Beeindruckt von Sprache und Tiefe des Gedichts

Nach der Wiederentdeckung von Lukrez' Werk, das schließlich 1473 veröffentlicht wurde, waren jedoch viele Gelehrte der Renaissance beeindruckt von der Sprache und Tiefe des Gedichts - es sind mehr als 50 Handschriften des Werkes bekannt, die allein im 15. Jahrhundert angefertigt wurden. Darüber hinaus gab es ihnen reichlich Stoff zum nachdenken - denn was darin stand, war ja nicht das Produkt einer Offenbarung oder einem Drogenrausch entsprungen. Es handelte sich um Schlussfolgerungen aus genauen Beobachtungen der Natur. Beobachtungen, wie die Gelehrten sie selbst zunehmend sammelten.

Selbst Kritiker des Lukrez verbreiteten das Gedicht weiter. Erasmus von Rotterdam beschäftigte sich damit, genau wie Thomas Morus. Unter dem Eindruck des Lukrez stand auch der Dominikanermönch Giordano Bruno, der vom katholischen Glauben abfiel und 1600 in Rom bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Niccolo Machiavelli hatte Lukrez gelesen, Michel de Montaigne besaß ein Exemplar von "De rerum natura" und zitierte häufig daraus. Selbst Galileo Galilei wurde "Atomismus" vorgeworfen - eine Vorstellung, die derjenigen des Lukrez entsprach. Und Isaac Newton versuchte, diese Idee mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren.

So kam das "Streben nach Glück" in die US-Verfassung

Diderot zitierte Lukrez, Voltaire setzte sich mit ihm auseinander. Kant distanzierte sich von der Gottesleugnung des Lukrez, Herder regte eine Übersetzung ins Deutsche an, die Goethe unterstützte - auch wenn er den Umgang des Dichters mit der Vorstellung vom Tode ablehnte.

Es gibt sogar Anspielungen auf Lukrez bei Shakespeare und anderen Dramatikern sowie in Sandro Botticellis Malerei. Thomas Jefferson besaß fünf Ausgaben des Gedichts. Es lässt sich unschwer nachvollziehen, wie dieser Gründervater der Vereinigten Staaten auf die Idee kam, das Recht auf das Streben nach Glück in die Verfassung zu schreiben.

"De rerum natura" wirkte so beständig im Hintergrund. Es regte zum Nachdenken an, änderte Perspektiven - und selbst wenn das Gedicht heute fast vergessen scheint: Seine große Bedeutung für die Entwicklung unserer modernen Gesellschaften mit Werten wie der Würde des Menschen, mit Meinungs- und Religionsfreiheit und dem Anspruch auf Gleichberechtigung aller, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, oder Glaube kann niemand leugnen.

Wer also keinen Anlass sieht, Martin Luther und dessen Glauben zu feiern, kann den 31. Oktober stattdessen nutzen, um ein anderes Jubiläum zu begehen: 600 Jahre Wiederentdeckung des Gedichts "De rerum natura".

Leseempfehlung:

  • Über die Natur der Dinge, von Klaus Binder neu übersetzt. dtv. ISBN 978-3-423-14579-4. 408 Seiten. Als Taschenbuch 16,90 Euro
  • Die Wende - Wie die Renaissance begann, Stephen Greenblatt. Pantheon Verlag. ISBN 978-3-570-55225-4. 352 Seiten. Als Taschenbuch 14,99 Euro
  • Antike Glückslehren. MalteHossenfelder. Kröner Verlag. ISBN 9-783-520-42402-0. 445 Seiten. 19,90 Euro

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