59. Filmfestival Thessaloniki:Vom Fluch und Segen der Nächstenliebe

59. Filmfestival Thessaloniki: Nächstenliebe oder verbotene inzestuöse Erotik: Pero gibt ihrem Vater Cimon die Brust. Die "Caritas Romana" in der Darstellung von Johann Carl Loth (1632 - 1698).

Nächstenliebe oder verbotene inzestuöse Erotik: Pero gibt ihrem Vater Cimon die Brust. Die "Caritas Romana" in der Darstellung von Johann Carl Loth (1632 - 1698).

(Foto: Wilanów Palast, Warschau)

Dem Filmfestival Thessaloniki gelingt in diesem Jahr ein starker Wettbewerb, weil es sich bei der Filmauswahl an der "Caritas Romana" orientiert. In der antiken Sage kommt ein Kernthema des Arthouse-Kinos zum Vorschein: die Ambivalenz des Menschen.

Von Paul Katzenberger

Die "Caritas Romana" ist ein antikes Exempel der menschlichen Widersprüchlichkeit: Seine erste schriftliche Überlieferung stammt vom römischen Schriftsteller Valerius Maximus aus dem Jahr 31 nach Christus, doch die Erzählung von der Tochter Pero, die ihren Vater Cimon säugt, ist sehr viel älter.

Denn Cimon ist schon in der griechischen Mythologie unter dem Namen Tectaphus bekannt, einem Abkömmling vom sagenumrankten Volk der Lapithen. Der Legende nach war dieser edelmütige Krieger vom indischen König Deriades eingekerkert und zum Hungertod verurteilt worden. Als seine Tochter Eerie ihn im Gefängnis aufsucht, wird sie gefilzt, denn Lebensmittel darf sie nicht in Tectaphus' Zelle nehmen. Doch sie findet einen Weg, ihren Vater am Leben zu erhalten: Sie gibt ihm die Brust.

Die Macher des Internationalen Filmfestivals Thessaloniki konnten also auf ihr eigenes historisches Erbe zurückgreifen, als sie entschieden, die Geschichte von Tectaphus und Eerie zum Leitfaden ihrer diesjährigen Programmauswahl zu machen. Und wie die 15 Filme des Wettbewerbs bei der 59. Auflage des wichtigsten Festivals auf dem Südbalkan zeigen sollten, erwies sich das Thema als ausgesprochen dankbar. Denn das Spannungsfeld, das zwischen dem rein karitativen Aspekt von Eeries Handlung und der inzestuösen und unerlaubten Erotik der Szene liegt, faszinierte Künstler von Giovanni Boccaccio über Peter Paul Rubens bis hin zu John Steinbeck über Jahrhunderte hinweg.

Dass ein Tun, das von Nächstenliebe bestimmt ist, mit handfesten Grenzüberschreitungen verbunden sein kann, machte in Thessaloniki der dänische Wettbewerbsbeitrag "The Guilty" deutlich. In seinem Spielfilmdebüt erzählt Regisseur Gustav Möller die Geschichte des Polizisten Asger Holm, der in die Kopenhagener Notrufzentrale abkommandiert worden ist, und dort den anonymen Anruf einer Frau erhält, die entführt worden zu sein scheint. Holm tut alles in seiner Macht stehende, um die Frau aus der Gewalt ihres vermeintlichen Peinigers zu befreien, wobei er gesetzliche und dienstliche Bestimmungen überschreitet.

Ein Zwiespalt, der sich nicht auflösen lässt

Der Zuschauer ist dabei hin- und hergerissen zwischen der Missbilligung von Holms Pflichtverletzungen und dem Sicheinfühlen in seine Hilfsbereitschaft. Dieser Zwiespalt löst sich auch dann nicht auf, als klar wird, dass Holms Handeln auf einem Trugschluss basiert.

Die Ambivalenz, die in der Caritas Romana zum Ausdruck kommt, verdichtet sich in "The Guilty" damit in eindrucksvoller Weise. Jakob Cedergren bekam für seine Darstellung des zwiespältigen Polizisten zur Recht den Preis für die beste männliche Hauptrolle.

"Silberner Alexander" geht nach Deutschland

Als beste Schauspielerin wurde in Thessaloniki Aenne Schwarz für ihre Rolle im deutschen Wettbewerbsbeitrag "Alles ist gut" geehrt. Sie stellt das Vergewaltigungsopfer Janne dar, womit das Programm auf die nicht hinnehmbaren Formen von Sexualität zu sprechen kam, die aus der Caritas Romana herausgelesen werden können.

Der Film von Regisseurin Eva Trobisch zeigt die Konsequenzen, die der sexuelle Übergriff nach sich zieht, mit tiefsinniger Lebensnähe auf. Denn viele Frauen reagieren nach einem Missbrauch so wie Janne, die glaubt, die Situation am besten bewältigen zu können, wenn sie ihr normales Leben weiterlebt und kein Drama daraus macht. Schwarz stellt das in leiser und wenig anprangernder Weise dar, und macht gerade dadurch deutlich, wie versehrt Janne durch den Übergriff ist. Denn sie ist eine bewusste und starke Frau, und doch kann sie den schleichenden Kontrollverlust nicht verhindern, dem sie durch die Tat unterworfen wird.

"Alles ist gut" wurde in Thessaloniki auch mit dem Spezialpreis der Jury ("Silberner Alexander") ausgezeichnet, wodurch Regisseurin Trobisch weiter auf einer Erfolgswelle reitet. Schon bei den Filmfestivals in Locarno, München und auf den Hamptons hat sie für ihr Erstlingswerk Preise entgegengenommen.

Berührend: Griechische Hausfrau findet sich selbst

59. Filmfestival Thessaloniki: Erlösung im Putzfrauen-Job: Panajiota (Marischa Triantafjllidou) wendet sich in "Her Job" der Sonnenseite des Lebens zu.

Erlösung im Putzfrauen-Job: Panajiota (Marischa Triantafjllidou) wendet sich in "Her Job" der Sonnenseite des Lebens zu.

(Foto: Jour2Fête)

Den sexuellen Tabubruch, der in Peros töchterlicher Säugung zum Ausdruck kommt, griff der Wettbewerb in Thessaloniki aber auch in Hinblick auf seine unberechtigte Ächtung auf. So begleitet etwa das Sozialdrama "Socrates" seinen gleichnamigen Protagonisten durch die Straßen der brasilianischen Hafenstadt Santos, auf denen er sexueller Repression ausgesetzt ist.

Es fällt ihm sehr schwer, sein Leben zu fristen, weil er mit 15 nicht nur sehr jung, sondern auch homosexuell ist. Als Socrates' (Christian Malheiros) Mutter plötzlich stirbt, verliert er schnell seine gesamte Existenzgrundlage: Die Vermieterin wirft ihn aus der Wohnung, der Vater verweigert dem schwulen Sohn ein Obdach und aufgrund seiner Minderjährigkeit findet er keine Arbeit: Armut und Homophobie - sie können in Brasilien schnell zur maximalen Ausgrenzung führen, das wird in "Socrates" erschreckend deutlich. Der Film, der von UNICEF als Projekt der sozialen Inklusion von benachteiligten Jugendlichen gefördert wurde und in den Armenvierteln von Santos mit minimalem Budget entstand, erhielt in Thessaloniki eine lobende Erwähnung.

Unter den drei Filmen im Wettbewerb mit griechischem Produktionsanteil ragte das Sozialdrama "Her Job" heraus. In dem Film zeichnet Regisseur Nikos Labôt ein ernüchterndes Bild seines krisengeschüttelten Heimatlandes, in dem er allerdings der Hoffnung breiten Raum einräumt: Nachdem die Rezession die letzten Resourcen einer Athener Kleinfamilie aufzufressen droht, entschließt sich Mutter Panajiota eine Arbeit als Putzfrau in einem neuen Einkaufszentrum anzunehmen.

Es ist der erste Job der 37-Jährigen, die des Lesens und Schreibens nahezu unkundig ist. Der Schritt kostet die verunsicherte Frau zunächst viel Überwindung, doch sie beißt sich trotz ausbeuterischer Arbeitsbedingungen durch. Und plötzlich bekommt sie von den Kolleginnen die Anerkennung, die sie als Hausfrau von ihrem Mann und den zwei Kindern nie bekommen hat. Panajiota lernt, dass das Leben nicht nur aus Aufopferung für andere bestehen darf, sondern auch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen müssen, um ins seelische Gleichgewicht zu finden. Es sprach für die Programmierer des Festivals, dass sie auch diesen Aspekt bei der Interpretation der "Caritas Romana" beleuchteten.

Marischa Triantafjllidou stellt die verschüchterte Panajiota mit ihrem langsam erwachenden Selbstbewusstsein so berührend dar, dass die Jury entschied, sie neben Aenne Schwarz als beste Darstellerin zu ehren.

Raue Elternliebe

Mit dem "Goldenen Alexander" ging der Hauptpreis des Festivals wiederum an ein Werk, das die Nächstenliebe ganz im Spannungszustand der "Caritas Romana" interpretiert. "Ray & Liz" stammt vom Briten Richard Billingham, einem Fotografen, bekannt für die Bilder seiner verantwortungslosen und kaputten Eltern.

In seinem ersten Spielfilm zeigt er nun mit dem gleichen messerscharfen und unbefangenen Blick seiner Fotos, wie es war, in Birminghams Armenghetto "Black Country" in einer verwahrlosten Sozialwohnung mit Alkoholikervater Ray und der kettenrauchenden fettleibigen Mutter Liz aufzuwachsen.

Billinghams Blick auf sein Elternpaar ist erbarmungslos neutral. Er macht sich weder zu ihrem Anwalt, noch zu ihrem Komplizen, und schon gar nicht macht er sich über sie lustig. Und doch geht von den Aufnahmen in "Ray & Liz" eine raue Zärtlichkeit aus, die verdeutlicht, dass Kinder auch die abwesendsten und unzuträglichsten Eltern irgendwo noch lieben.

Alkoholisches Lebenselixier

Am Ende seines Lebens vegetiert Ray in einer Klause vor sich hin, die er nur noch verlässt, wenn er aufs Klo geht. Doch so wie Eerie in die Gefängniszelle kommt, um für für Tectaphus da zu sein, erhält Ray (Patrick Romer) in seinem Loch regelmäßig Besuch von seinem Nachbarn Sid (Richard Ashton), der ihn zwar nicht mit Muttermilch versorgt, dafür aber mit reichlich "Strong Home Brew", Rays alkoholischem Lebenselixier in großen Plastikflaschen, mit dem er sich zu Tode säuft.

Womit erneut der Nachweis dafür erbracht wäre, wie widerspüchlich Nächstenliebe sein kann.

59. Filmfestival Thessaloniki: So war das in Black Country: Szene aus "Ray & Liz".

So war das in Black Country: Szene aus "Ray & Liz".

(Foto: Luxbox)
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