55. Internationales Filmfestival Thessaloniki:Die bizarre Welle rollt

Szene aus dem griechischen Film "Norway".

Unterwegs in eigenwilliger Mission: Szene aus dem griechischen Film "Norway".

(Foto: Horsefly Productions)

Als Ehrengast des Filmfestivals in Thessaloniki erinnert Hanna Schygualla ihre Gastgeber an die Erfahrungen im Deutschland der Nachkriegszeit. Sie warnt vor ähnlichen Gefahren wie eine junge Generation griechischer Regisseure, die mit ungewöhnlichen Filmen auf die Notlage ihres Landes reagieren.

Von Paul Katzenberger, Thessaloniki

Als Botschafterin Deutschlands ist Hanna Schygulla in Griechenland denkbar gut geeignet. Ihre schauspielerischen Leistungen werden in Hellas inzwischen wahrscheinlich sogar höher bewertet als in der Heimat, so war es nur folgerichtig, dass sie beim 55. Internationalen Filmfestival in Thessaloniki mit dem "Goldenen Alexander" für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Sie wusste die Bühne zu nutzen. Sehr im Gegensatz zu vielen Landsleuten, die den Griechen gegenüber seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise selbstgefällig auftreten, zeigte sie Verständnis für die Nöte des Landes. Dessen augenblickliche Situation verglich sie mit der Lage des kriegsgeschundenen Deutschlands ihrer Kinder- und Jugendjahre, und erinnerte an die Chancen, die damit einhergingen: "Wir versuchten uns damals an einem Neustart. Wir waren damals mehr am 'Sein' als am 'Haben' interessiert, und wir dachten, Liebe statt die Konfrontation solle unsere Antriebskraft sein." Griechenland müsse sich nun auch wie der Phoenix aus der Asche erheben, doch den Zusammenbruch des Wertesystems gelte es dabei zu verhindern. Denn: "Wir leben alle im selben Körper, Europa, die Welt, die gesamte Menschheit, wir haben so viel gemeinsam, trotz unserer Unterschiede."

Hannah Schygulla in Thessaloniki, 06.11.2014

Hanna Schygulla in Thessaloniki: "Wir haben so viel gemeinsam, trotz unserer Unterschiede."

(Foto: Paul Katzenberger)

Der Appell hätte auch von jenen griechischen Filmemachern stammen können, die in den vergangenen fünf Jahren mit Werken aufgefallen sind, die der britische Filmkritiker Steve Rose als die "bizarre Welle" bezeichnete: Vorreiter dieser Bewegung sind Yorgos Lanthimos und Athina Rachel Tsangari, die mit ihren Filmen "Dogtooth" (2009), "Attenberg" (2010) und "Alpen" (2011) in Cannes und Venedig mehrfach ausgezeichnet wurden.

Lanthimos' und Tsangaris Dramen handeln nicht direkt von der tiefen sozialen Krise Griechenlands, doch den Werteverfall, von dem Schygulla in Thessaloniki sprach, benennen sie dafür umso expliziter. Es geht um Sprachlosigkeit, Gewaltbereitschaft, Xenophobie, Lethargie und den Mangel an Visionen.

Griechisches Kino feiert 100-jähriges Jubiläum

Das "Bizarre", von dem Filmkritiker Rose spricht, ergibt sich durch ihren Sinn fürs Groteske und die absurden Dialoge, von denen ihre Filme geprägt sind. Vor allem üben sie aber Kritik an Rolle und Zustand der Familien in Griechenland. Tsangari begründet das mit ihrer Auffassung von den Ursachen der griechischen Krise: "Warum geht es unserer Politik und Wirtschaft so schlecht? Weil sie geführt wird wie eine Familie. Es geht darum, wen Du kennst."

Das fünfte Jahr der griechischen Staatsschuldenkrise fiel bei der 55. Austragung des Filmfestivals in Thessaloniki mit dem 100-jährigen Jubiläum des griechischen Kinos zusammen, das Costas Bachatoris 1914 mit dem Spielfilm "Golfo" begründet hatte.

Welche Wendungen der griechische Film von Bachatoris bis Lanthimos genommen hat, wurde den Festivalbesuchern in der Retrospektive des griechischen Kinos mundgerecht aufbereitet, die in Thessaloniki aus Anlass der Hundertjahrfeier gezeigt wurde. Von Michael Cacoyannis, dem 1964 mit "Alexis Zorbas" einer der erfolgreichsten Kassenschlager der internationalen Kinogeschichte gelungen war, wurde etwa der Erstlingsfilm "Stella" von 1955 gezeigt.

Jury fällt lobenswerte Entscheidung

Das Liebesdrama "Stella" steht auf der Liste der zehn besten Filme der griechischen Filmkritikervereinigung PHUCC, die den Programmierern in Thessaloniki offenbar als Leitlinie diente: Auch "The Dragon" (1956) von Nikos Koundouros, "Evdokia" (1971) von Alexis Damianos und "Sweet Bunch" (1983) von Nikos Nikolaidis fanden von dem Ranking in die Retrospektive.

Von Theo Angelopolous, dem gefeiertsten Regisseur des "New Greek Cinema", das sich in den Sechzigerjahren unter der Militärdiktatur formiert hatte, wurde "Die Wanderschauspieler" (1975) gezeigt, der dritte Spielfilm des Großmeisters, in dem sein unverwechselbarer Stil der langsamen Erschaffung surrealistischer Atmosphären bereits deutlich wird.

Die Retrospektive war allerdings nur ein Teil der Sektion "Griechische Filme", die sich nicht im Blick zurück erschöpfte, sondern auch aktuelle Produktionen präsentierte. Unter diesen deuteten mehrere an, dass die "bizarre Welle" des griechischen Kinos noch immer rollt: Das Drama "Queen Antigone" von Telémachos Alexiou etwa hätte inhaltlich auch von Tsangari und Lanthimos (letzterer in der Retrospektive vertreten durch "Dogtooth") stammen können. Es geht um den existenziellen Identitätskonflikt einer jungen Frau, die von der Betreuung ihres kranken Vater und der Beschützung ihres jüngeren Bruders überfordert ist. Ihre Geschichte endet analog zu Sophokles' "Antigone" tragisch.

Und bizarrer als "Norway" war wohl keiner der Filme, die dieses Jahr in Thessaloniki gezeigt wurden. Die Internationale Filmkritiker-Vereinigung Fipresci vergab ihren Preis für die Sektion "Griechische Filme" an die Vampir-Groteske und belegte damit ihr notorisches Faible für Avantgarde-Filme, das auch durch ihre Auszeichnung des österreichischen Beitrags "Ich seh, ich seh" (Trailer hier) von Veronika Franz und Severin Fiala im internationalen Wettbewerb zum Ausdruck kam.

Grandiose Bildsprache des Siegerfilms

Zu einem ausgewogenen und kompetenten Urteil kam die Jury für den internationalen Wettbewerb unter dem österreichischen Regisseur Götz Spielmann. Sie vergab den Hauptpreis des Festivals "Goldenen Alexander Theo Angelopoulos" an "La tirisia" ("Unendliche Traurigkeit", Trailer hier) von Jorge Pérez Solano.

Adriana Paz in einer Szene des Films "La tirisia".

Bekam in Thessaloniki die lange verdiente Beachtung: Jorge Pérez Solanos Siegerfilm "La tirisia", hier in einer Szene mit Hauptdarstellerin Adriana Paz.

(Foto: Boris Grushenko)

Die Entscheidung für den Mexikaner hätte allein wegen der Benennung der Auszeichnung nach Theo Angelopoulos nicht überzeugender sein können: Ganz nach dem Vorbild des griechischen Maestros hebt sich Solanos Drama durch seine grandiose Bildsprache und seine präzise Erzähl-Ökonomie von vielem ab, was der internationale Festival-Reigen in diesem Jahr aufzubieten hatte. Umso unverdienter erschien es, dass Solano auf den Festivals in Karlovy Vary und Valladolid ohne Beachtung blieb, weswegen er die Anerkennung redlich verdient hat, die ihm in Thessaloniki nun zuteil wurde.

Der Besuch des Filmfestivals in Thessaloniki wurde teilweise vom Veranstalter unterstützt.

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