50. Jubiläum des Oberhausener Manifests:Filme wie Musikstücke

Fremde Zeiten und Momente, in denen sich etwas manifestieren kann. Das 50. Jubiläum des legendären Oberhausener Manifests stand im Mittelpunkt der diesjährigen Kurzfilmtage in Oberhausen. Das Festival rührte an alten und neuen Grenzen, mit Filmen jenseits allen Schubladendenkens. Ganz in der Art, wie es die Manifest-Unterzeichner und ihr Moderator Alexander Kluge seinerzeit gefordert hatten.

Hans Schifferle

Letzten Freitag, bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises, beschwor Iris Berben, Präsidentin der Filmakademie, die große deutsche Filmfamilie, die in Berlin zusammengekommen sei. Zur selben Zeit lief in einer anderen deutschen Stadt, die zu den ärmsten Kommunen des Landes gehört, ein kleines wildes Filmfest auf Hochtouren, das zu den ältesten und bedeutendsten Deutschlands gehört.

50. Jubiläum des Oberhausener Manifests: Alexander Kluge (am Pult) während der Pressekonferenz zum Oberhausener Manifest 1962.

Alexander Kluge (am Pult) während der Pressekonferenz zum Oberhausener Manifest 1962.

(Foto: Kurzfilmtage)

In Alt-Oberhausen, zwischen der Fußgängerzone, wo gerade das letzte große Kaufhaus der City schließt, und der Luise-Albertz-Halle, wo gerade Comedian Ralf Schmitz auftrat, versammelte sich eine andere, heterogene Film-Community, um die 58. Ausgabe der Oberhausener Kurzfilmtage zu feiern und das 50. Jubiläum des legendären Oberhausener Manifests, das die deutsche Filmgeschichte geprägt hat.

Zur Eröffnung betrat auch Wolfgang Urchs die Bühne der Lichtburg, ein Manifest-Unterzeichner, der weniger bekannt geworden ist als die Mitstreiter Kluge und Reitz, aber für seine Animationsfilme mit mehreren deutschen Filmpreisen ausgezeichnet wurde.

Über neunzig Jahre alt, aber manchmal wie ein junger Mann wirkend, erzählte Urchs, dass es für die Abkehr von Papas Kino auch einen ganz konkreten Anlass gegeben hatte - die Unmengen von Geld, die ausgerechnet Bernhard Wicki für "Das Wunder des Malachias" ausgab, hätten die jungen Männer erzürnt. Wie viele Filme hätten sie damit machen können!

Die Geschichte des Manifests (zu der auch ein lesenswertes Buch erschien: "Provokation der Wirklichkeit", herausgegeben von Ralph Eue und Lars Henrik Gass) wurde geschickt in eine Retro mit dem Titel "Mavericks, Mouvements, Manifestos" integriert, die Kino- und Kunstbewegungen der fünfziger und sechziger Jahre aus Europa, den USA und Japan vorstellte.

Aufregender Kunstfilm

Höhepunkte: Robert Franks selten gezeigter "O. K. End Here", ein Liebesfilm zwischen Depression, Style und Poesie, sowie "For My Crushed Right Eye", von Toshio Matsumoto, ein mit drei 16mm-Projektoren vorgeführtes Pop-Triptychon aus einer fremden Zeit.

Fremde Zeiten und Momente, in denen sich etwas manifestieren kann: Davon handelt auch "Meteor", der neue Film von Matthias Müller und Christoph Girardet, der im (guten) deutschen Wettbewerb lief. Eine Montage aus alten Spielfilm-Clips, in der Aufnahmen von erstaunten, erschreckten, verträumten Jungs, Bilder von Astronauten und fernen Planeten gegenübergestellt sind. Der Film zeigt den Jungen als suchendes, sensibles Wesen, offen für alle Möglichkeiten aus der Außenwelt. Dieser aufregende Kunstfilm gehört jenseits allen Schubladendenkens zum Besten, was das deutsche Kino in jüngster Zeit zu bieten hat.

An die alten und die neuen Grenzen zu rühren, die Klischees der Filmhistorie und den Index-Wahn des digitalen Zeitalters, dazu lädt Oberhausen ein. Waren die deutschen Filme der Fünfziger wirklich so schlecht, wie die Unterzeichner des Manifests behaupteten? Und sind Experimentalfilme wie "Meteor" für das Kino verloren, weil sie hauptsächlich in Galerien und Museen vorgeführt werden?

Immer noch schaut das Kino dem Tod bei der Arbeit zu

Oberhausen sieht die Kinovorführung als Pflicht und als Chance und als Vergnügen. Man konnte etwa die bombastischen Werke des Finnen Ilppo Pohjola auf der großen Leinwand der Lichtburg körperlich erleben, "Roadmaster", "Asphalto" und "1 plus 1 plus 1" ließen den Kinoraum erzittern. Die Filme sind wie Musikstücke komponiert. "Asphalto" beispielsweise ist eine urbane Arie über Autos, Girls, Tankstellen und die Einsamkeit Finnlands. Pohjolas Filme spielen mit Emblemen und grafischen Elementen, die unbewusst unser tägliches Leben mitbestimmen.

In "Roadmaster", dem verfremdeten Mosaik eines Autorennens, lässt er Bilder von Leichen aufblitzen, die bei Laborversuchen als Crash Test Dummies benutzt wurden. "Sympathy for Decay" lautet in Anlehnung an Godard der Untertitel von "1 plus 1 plus 1". Immer noch und immer wieder schaut das Kino dem Tod bei der Arbeit zu.

Aufbruch und Niedergang stießen bei diesem Festival heftig aneinander. Wie lange noch werden analoge Filmvorführungen möglich sein? Der teilweise Verfall der Stadt Oberhausen, die sich stolz dieses schöne, irritierende Festival leistet, und der allmähliche Niedergang von Zelluloid schienen für ein paar Tage zu korrespondieren.

Alle Möglichkeiten zwischen analog und digital

Die Kraft des filmischen Handwerks, das ja auch die Unterzeichner des Manifests beherrschten, trat besonders zutage in den Filmen von zwei Frauen, denen großartige Specials gewidmet waren. Vera Neubauer aus England, die seit 1971 Filme macht, wechselt spielerisch zwischen Animation und Live action, ihr "Don't Be Afraid" von 1990 ist ein kleiner Film ganz im Sinne des Free Cinema.

Ein Ereignis waren die Vorführungen der Filme von Linda Christanell, einer der letzten Vertreterinnen des klassischen österreichischen Avantgardefilms. Die wunderbaren, nonlinearen Melos "Fingerfächer" von 1982 oder "Picture Again" von 2002 sind Filme über Liebe, Erinnerung und Einsamkeit. Wie Ilppo Pohjola arbeitet auch Christanell nach genauen Filmkader-Protokollen, um einen Rhythmus der Sinnlichkeit zu erreichen - was zeigt, dass Drehbücher auch Partituren sein können, befreit von jeder Dramaturgie.

Wie Linda Christanell nach der Vorstellung von der Entstehung ihrer Filme erzählt hat, charmant, bescheiden und bedingungslos, von der Handarbeit am Schneidetisch wie bei einer bildenden Künstlerin, das war eine zweite Verzauberung. Und angesichts der technischen Entwicklung ein unbewusstes Manifest für alle Möglichkeiten zwischen analog und digital.

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