50 Jahre Jazz- und Klassikplatten von ECM:Musikalisches Welterbe

Warum das Münchner Jazz- und Klassiklabel des Produzenten Manfred Eicher die Musik der Gegenwart so nachhaltig geprägt hat. Was nun in Heidelberg gefeiert wird.

Von Thomas Steinfeld

Vor ein paar Wochen erschien das jüngste Album des "Danish String Quartet", eines Vereins dreier zerzauster Dänen und eines norwegischen Cellisten. Für das Album "Prism II" wurde Bachs Fuge in B-moll (BWV 869) aufgenommen, Beethovens spätes Streichquartett op. 130 und Alfred Schnittkes drittes Streichquartett. Schon bevor das Quartett im Jahr 2017 zum Münchner Label ECM stieß und von Manfred Eicher produziert wurde, war es durch ein ebenso virtuoses wie energisches Spiel aufgefallen, vor allem aber durch einen freien oder zumindest scheinbar spontanen Umgang mit den Kompositionen. Zugleich herrschte in dieser Gruppe offenbar ein Wille, sich von gedanklichen und musikalischen Beziehungen zwischen den Werken inspirieren zu lassen, über die Jahrhunderte und die Genres hinweg.

Manfred Eicher scheint diesen Willen gefördert zu haben: nicht nur durch eine makellose Technik, die jede Stimme bis ins Detail hörbar werden lässt, sondern auch durch die Lizenz, dem Spiel mit den Beziehungen nachzugehen, als ginge es dabei ums Improvisieren. So kommt es, dass Schnittkes Quartett die Mitte des Albums bildet, indem es Orlando di Lasso, Beethoven und Schostakowitsch zitiert, vor allem aber, weil es, so disparat, wie es vermeintlich ist, einen Rahmen von Möglichkeiten des Ausdrucks schafft, in dem Bach und Beethoven gleichsam neu erscheinen.

Seit fünfzig Jahren gibt es das Münchner Musiklabel ECM. In dieser Zeit haben sich die Produktion und der Vertrieb von Musik grundsätzlich gewandelt. Längst sind Konkurrenten rechts und links beiseitegesunken, längst sind ganze Genres der populären Musik dahingegangen. Doch ECM gibt es noch immer, mit einem doppelten Schwerpunkt, mit dem Jazz auf der einen, der Kammermusik auf der anderen Seite. Um diese beiden Themen oszilliert das Programm von ECM, in weiten Bögen und sich unablässig verändernd, aber immer noch mit vierzig bis fünfzig Alben jährlich - und mit einem "Danish String Quartet", das die Hörer von Bach und Beethoven daran erinnert, dass auch deren Werke am tiefsten wirken, wenn sie erscheinen, als wären sie aus dem Augenblick und für den Augenblick entstanden.

Manche Aufnahmen scheinen von großer Schlichtheit zu sein, das gefällt nicht allen Kritikern

Zur Beständigkeit des Unternehmens ECM gehört die Beständigkeit des Personals. Das gilt zuerst für den Kopf und das Ohr des Labels, für den Produzenten Manfred Eicher, der nach wie vor das Programm macht und die meisten Aufnahmen betreut. Das gilt auch für einige Musiker, die von Anfang an für ECM standen und es immer noch tun: für den Pianisten Keith Jarrett und den Saxofonisten Jan Garbarek im Jazz vor allem, in der Klassik für den Pianisten András Schiff, den Violinisten Gidon Kremer oder den Komponisten Arvo Pärt.

Es wäre möglich, ausgehend von diesen Gestalten ein Netz zu entwerfen, in dem einige Musiker immer wieder erscheinen und viele Verbindungen innerhalb dieser Struktur unterhalten, während andere weniger häufig vorkommen und stärker mit Punkten außerhalb der Struktur verknüpft sind. Dieses Netz müsste man sich als bewegliche Veranstaltung vorstellen, in der sich Positionen und Verbindungen fortlaufend verändern und in der auch das scheinbar Widersprüchliche möglich ist (beispielsweise Duos von Piano und Vibrafon, wie bei Chick Corea und Gary Burton).

Es gibt unzählige Versuche, die Musik des Hauses ECM als einen Stil zu definieren, der sich etwa durch die Bevorzugung langsamer Tempi, durch die Gestaltung des Raumklangs oder durch das Arrangement von Mikrofonen bei der Aufnahme auszeichnen soll. Diese Versuche führen in die Irre. Für jedes Beispiel, das die Gegenwart eines Stils belegen soll, finden sich andere, die der Annahme widersprechen. Will man wissen, was ECM tatsächlich tut, ist die Kategorie des Netzes tauglicher.

50 Jahre Jazz- und Klassikplatten von ECM: ECM-Gründer und Produzent Manfred Eicher bei der Arbeit mit Meredith Monk.

ECM-Gründer und Produzent Manfred Eicher bei der Arbeit mit Meredith Monk.

(Foto: Deborah Feingold)

Innerhalb dieses Netzes gibt es Figuren, die für Manfred Eicher und sein Programm eine vielleicht sogar größere Bedeutung besitzen als die berühmteren Musiker seines Labels. Zu diesen Figuren gehört der im Jahr 2011 verstorbene amerikanische Schlagzeuger Paul Motian, der auf einem guten Dutzend ECM-Aufnahmen erscheint. Über ihn heißt es oft, sein Spiel sei eher melodisch und auf Klangfarben konzentriert als in einem strengen Sinn rhythmisch. Das ist sicherlich richtig, erfasst aber die Eigenart dieses Künstlers unzureichend. Paul Motian legt vielmehr ein Netz. Er schafft eine Struktur, die das Spiel seiner Mitmusiker bindet oder gar zähmt (weshalb er gern mit Pianisten arbeitete, die ja immer alles spielen können und oft zu viel), indem es gliedert, teilt und rahmt. Die Wirkung dieser Techniken ist von metaphysischer Art, "metaphysisch" im eigentlichen Sinn des Wortes verstanden: als etwas, dass über alles Physische hinausgeht. Paul Motian lenkt das Ohr, er verdichtet die Musik. Sein Spiel ist programmatisch für ECM, insofern nahezu jede Aufnahme dieses Labels einer solchen Vorstellung von musikalischer Gestaltung folgt. Und nicht nur sie: Betrachtet man die Cover, die über nunmehr fünf Jahrzehnte eine ganz eigene, leicht wiedererkennbare Typologie besitzen, so erscheint dieses Prinzip der Rahmung und Verdichtung auch im Optischen. Nicht animieren sollen diese Umschläge mit ihren oft schwarz-weißen Bildern, sondern kondensieren.

Unter deutschen Kulturunternehmern schufen nur wenige ein solches Werk

Musik ist nicht nur etwas Flüchtiges, materiell kaum zu Ergreifendes, sondern auch etwas Unwahrscheinliches. Bilder sind Bilder von etwas, Sprache erzählt, aber was tut Musik? Sie ordnet Geräusche. Sie bedeuten nichts außer sich selbst (nun gut, es gibt Programmatisches, aber auch darin sind entweder viele Deutungen oder gar keine Deutung möglich). Längst ist mindestens die halbe Menschheit von so viel Musik umgeben, dass der Sinn für das Unwahrscheinliche, das ihr zugehört, weitgehend verschwunden ist. Durch das bewusste Gliedern, Teilen und Rahmen von Musik entsteht dieser Sinn für das Unwahrscheinliche neu. Nichts ist mehr selbstverständlich, wenn man sich auf das Einzelne und dessen Ordnung konzentriert.

Deshalb wendet Manfred Eicher der Aufnahmetechnik so große Aufmerksamkeit zu, deshalb auch die relative Häufigkeit langsamer Tempi. Die Berliner Pianistin Julia Hülsmann hat einmal in einem Interview über die Arbeit mit Manfred Eicher berichtet, er nehme ihr jedes Mal die Hälfte der Töne weg. Das muss man ertragen können, und es gibt nicht wenige Musiker, die solche Situationen als schwierig empfinden. Andererseits dürfte unwahrscheinliche Musik weitaus kostbarer sein als wahrscheinliche Musik.

Für dieses Unwahrscheinliche hat Manfred Eicher einen Sinn, der ECM weit in die zeitgenössische Avantgarde führte, nicht nur zum "Art Ensemble of Chicago", das ja noch zum Jazzgenre gerechnet wird, sondern bis hin zu Helmut Lachenmann, Giya Kancheli und Heiner Goebbels. Für das Programm (aber auch für dessen aufmerksame Hörer) sind solche Ausflüge in Spielarten der Musik, die selbst in den Mitternachtsprogrammen öffentlicher Sender kaum mehr vorkommen, von grundsätzlicher Bedeutung, weil das Beiseitegehen und Neubeginnen den Sinn für das Unwahrscheinliche schärft. Und wenn die Verwendung von ECM-Musik im Film eine eigene Geschichte erfordern würde - nicht nur für die Kooperationen mit Michael Mann, Theo Angelopoulos oder Jean-Luc Godard, sondern auch für unzählige Produktionen, in denen die Musik vermeintlich nur Soundtrack ist -, dann liegt das daran, dass die Musik hier selten feste Dramaturgien bestätigt, sondern dass sie beim Anschauen imaginäre Räume öffnet, die man nicht sieht, die aber zum Werk gehören.

Manche Aufnahmen bei ECM scheinen von großer Schlichtheit zu sein. Das gilt für die stilisierte Einfachheit gewisser Werke von Arvo Pärt, für einige Exkursionen in die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Es gilt auch für den elegischen "Part II b" in Keith Jarretts "Köln Concert" aus dem Jahr 1975, das der größte Erfolg dieses Musikers war, der größte Erfolg der Firma ECM und eines der meistverkauften Jazzalben überhaupt. Es gab hoffärtige Kritiker, die ob solcher Schlichtheit die Stirn in Falten legten.

Doch zum einen gehört das Einfache zum Beginnen, zum Umgang mit dem Unwahrscheinlichen. Zum Zweiten stimmt, was Friedrich Nietzsche meinte: dass sich nämlich die "Seele der Musik" bisweilen in der vermeintlichen "Kinderei" auftut. Zum Dritten ist gerade dieses Stück in die Endlosschleifen eingegangen, die das kollektive Ohr umspielen, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, sodass sich für viele Menschen damit ein Stück Lebensgeschichte verbindet.

50 Jahre Jazz- und Klassikplatten von ECM: Carla Bley 2019 in Lugano.

Carla Bley 2019 in Lugano.

(Foto: Caterina Di Perri/ECM)

Aus allen diesen Gründen weigerte sich die Firma ECM bis zum Herbst 2017, seine Produktionen Streamingdiensten zur Verfügung zu stellen. Um sich dann doch anders zu entscheiden. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Schritt war notwendig geworden, um das Publikum zu erreichen und die Urheberrechte zu wahren, aber es liegt darin ein Verlust an künstlerischer Souveränität.

Seit fünfzig Jahren geht das so, im Zugänglichen wie im Sperrigen, in kleinen und großen Formaten und über mittlerweile mehr als 1500 Alben - oder vierzig bis fünfzig Alben pro Jahr - hinweg. Doch scheint es, vor allem in Deutschland, kein angemessenes Bewusstsein dafür zu geben, was ECM eigentlich ist und was Manfred Eicher für die Geschichte der Musik im jüngsten halben Jahrhundert bedeutet, und zwar nicht nur im eigenen Land, sondern auf der ganzen Welt.

Unter den deutschen Kulturunternehmern findet man nur wenige, die ein solches Werk schufen: den Verleger Siegfried Unseld vielleicht, mit der Einschränkung, dass Suhrkamp mehr ist als das Werk eines Mannes, während Mensch und Unternehmen bei ECM beinahe zusammenfallen. Doch während es im Fall Suhrkamp nicht nur ein umfangreiches, mit staatlichen Mitteln erworbenes und betriebenes Archiv gibt, sondern auch eine eigene Philologie, wird ein solches Engagement für ECM nicht einmal erwogen. Niemand hat bislang die Initiative ergriffen.

Warum ist das so? Weil man ein Gemälde von Mark Rothko in ein Museum hängen kann, eine Schallplatte des "Art Ensemble of Chicago", obwohl ästhetisch verwandt, hingegen nicht? Weil sich Peter Handkes "Angst des Tormanns beim Elfmeter" in einer signierten Erstausgabe besitzen lässt, die Musik von Carla Bley aber nicht? Dabei ergäbe wenigstens Manfred Eichers Rucksack, das kleine Gepäck, mit dem er alle seine Reisen bewältigt, einen prägnanten Gegenstand für die Vitrine. Je länger man über solche Dissonanzen nachsinnt, desto finsterer werden die Gedanken, was Gründe und Möglichkeiten der Fetischbildung im Kulturbetrieb betrifft.

In diesem Herbst findet, aus Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums des Unternehmens ECM, eine Reihe von Festivals statt, die zumindest einen Teil ihres Programms dieser Musik widmen. Die wichtigste unter diesen Veranstaltungen ist das Festival Enjoy Jazz in Mannheim. Es beginnt am 2. Oktober. Zu hören gibt es Carla Bley und ihr Ensemble, den Bassisten Barre Philipps, das Yonathan-Avishai-Trio, den Pianisten Tord Gustavsen und die griechische Komponistin Eleni Karaindrou. Eine jede dieser Musikerinnen, ein jeder dieser Musiker gehört zum inneren Netz eines künstlerischen Projekts namens ECM. Alle diese Konzerte werden Gelegenheiten sein, sich mit einem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen, das diesen Titel tatsächlich verdient.

Enjoy Jazz Festival, 2. Oktober bis 16. November, veschiedene Orte in Heidelberg. Info: www.enjoyjazz.de

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: