49. Internationales Filmfestival Karlovy Vary:Von essenzieller Schönheit

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Roter Teppich für die Darstellerinnen des tschechischen Dramas "Fair Play": Eva Josefikova, Judit Bárdos und Anna Geislerova (von links). (Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Offenheit für Neues zahlt sich manchmal aus: In einem Jahr, in dem die Berlinale und Cannes über ein durchwachsenes Programm nicht hinauskommen, gelingt dem kleineren A-Festival in Karlovy Vary ein überraschend starker Wettbewerb - mit Filmen, die nicht nur relevant sind, sondern auch das Auge ansprechen.

Von Paul Katzenberger, Karlovy Vary

Es hat überraschend lang gedauert - doch jetzt ist er da, der erste Spielfilm über das Staatsdoping im Sozialismus. Andrea Sedláčková hat ihn gemacht, gewissermaßen als tschechische Version von Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der anderen" aus dem Jahr 2006, nur unter geringerem Einsatz dramaturgischen Pomps, und vielleicht gerade deswegen ist "Fair Play" sogar schockierender als Donnersmarcks Stasi-Drama.

Veräterinnen sterben hier nicht, sondern werden von den Verratenen mit Kontaktstop belegt, was dem realen Leben wohl meistens sehr viel näher kommt als ein eindrucksvoll inszenierter Selbstmord. Die fiese kleine Geschichte Sedláčkovás hätte sich wohl tatsächlich genau so abspielen können.

Sie handelt von der 18-jährigen Anna (Judit Bárdos), die als große Nachwuchshoffnung des tschechoslowakischen Leichtathletikverbands davon träumt, als Sprinterin an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles teilzunehmen. Dafür wird sie dem staatlichen Dopingprogramm unterworfen, das sie zur Einnahme von Anabolika zwingt - mit allen körperlichen Folgen, wie einer unnatürlich dicht wachsenden Körperbehaarung, besorgniserregenden Leberwerten oder dem Ausbleiben der Monatsregel.

An dieser Rahmenhandlung entlang entwickeln die Drehbuch-Autorinnen (neben Sedláčková Irena Hejdova) ein intelligent verschachteltes Drama, das illustriert, wie durchdringend das kommunistische System buchstäblich in alle Lebensbereiche - von der Familie über Freundschaften und den Beruf - eingriff und dabei zentrale Werte wie das zwischenmenschliche Vertrauen oder die Selbstachtung zerstörte.

Seine Weltpremiere feierte "Fair Play" beim diesjährigen 49. Internationalen Filmfestival in Karlovy Vary (Karlsbad) und gehörte da zu den Highlights des Wettbewerbs. In einem Jahr, in dem die Berlinale neben Herausragendem wie "Boyhood" und "Grand Budapest Hotel" auch eine ganze Menge schwacher Wettbewerbsfilme aufbot, und Cannes nicht an das starke Vorjahr anknüpfen konnte, war die Karlsbader Konkurrenz überraschend stark.

Hauptpreis geht nach Georgien

In der vollen Breite konnte das kleine A-Festival zwar nicht mit den Großfestivals mithalten, das wäre für ein Festival auch zu viel verlangt, dem nur etwa ein Viertel des Etats der Großen zur Verfügung steht. Einige Karlsbader Beiträge hätten etwa der Berlinale in diesem Jahr aber durchaus gut getan.

Ein Kandidat für Berlin wäre sicher George Ovashvili mit seinem neuen Film "Simindis kundzuli" ("Mais-Insel") gewesen. Der Georgier wurde in der Berlinale-Sektion Panorama bereits 2005 für den Kurzfilm "Auf Augenhöhe" ausgezeichnet und mit seinem Spielfilm "Das andere Ufer" räumte er 2009 massenweise Preise ab, bei Festivals von Paris über Kiev bis Palm Springs.

Szene aus dem Film "Mais-Insel" von George Ovashvili mit Ilyas Salman und Mariam Buturishvili (von rechts). (Foto: Festival)

Allein, dass Ovashvili sein neues Drama dem Karlsbader Wettbewerb anvertraute, war für die Festivalmacher daher ein Erfolg. Der umso größer ausfiel, als die Wettbewerbs-Jury unter dem spanischen Produzenten Luis Miñarro dem Drama den Hauptpreis des Festivals zusprach, den mit 25 000 Dollar (18 350 Euro) dotierten Kristallglobus.

Die nahezu wortlose Allegorie auf den archaischen Überlebenskampf des Menschen mit den Naturgewalten lässt Ovashvili auf einer kleinen Flussinsel spielen, auf der ein alter Bauer mit seiner Enkelin Mais anpflanzt. Die Szenerie konterkariert er mit Situationen, die auf den Konflikt zwischen Georgien und Abchasien anspielen, was der biblischen Dimension des Dramas einen aktuellen Bezug gibt.

Der Film lebt von den beeindruckenden Bildern des ungarischen Kamera-Routiniers Elemer Ragalyi, die eine imposante Landschaft sowie die Mimiken und Gestiken der Protagonisten zeigen, die mehr sagen als manches Wort. Doch die bewusst auf das Elementarste reduzierte Geschichte richtet sich mit ihrer fundamentalen Gewissheit von der Größe der Natur und der Verletzlichkeit des Menschen vor allem an Puristen.

Wie man auch in einem ruhigen und dialogarmen Film ein brennend aktuelles Thema spannend aufarbeiten kann, demonstrierte in Karlsbad der Mexikaner Jorge Pérez Solano, der die Berlinale ebenfalls bereichert hätte. Denn in seinem Drama "La tirisia" ("Unendliche Traurigkeit") führt er den in Lateinamerika grassierenden Sexismus überzeugender vor als es die Argentinierin Celina Murga in ihrem diesjährigen Berlinale-Beitrag "The third side of the river" tat.

Beide Filmemacher wollen in ihren Filmen die männliche Gewalt darstellen, die in Lateinamerika vor allem in der Provinz in einem Ausmaß herrscht, wie es sich Europäer kaum vorstellen können. Doch Solanos Ansatz, dies aus den Augen der betroffenen Frauen zu tun und nicht wie Murgau aus der Perspektive eines männlichen Nachkömmlings, wirkte nicht nur nachvollziehbarer, sondern durch Solanos grandiose Bildsprache auch wesentlich eindrücklicher.

Solano, der mit "La tirisia" erst seinen zweiten Spielfilm vorlegte und damit in diesem Jahr sogar auf dem Talent-Campus der Berlinale ( Berlinale Talents) vertreten war, erwies sich in Karlsbad somit als echte Entdeckung.

Um den Machsimo in der mexikanischen Provinz geht es in dem Drama "La tirisia" ("Unendliche Traurigkeit) von Jorge Pérez Solano. (Foto: Festival)

Für genau solche Überraschungen ist das böhmische Filmfestival allerdings bekannt - der türkische Festivalprogrammierer Ahmet Boyacioglu reist deswegen jedes Jahr an. Seine Motive erklärt er am Beispiel seines Landsmannes Nuri Bilge Ceylan, der in Cannes gerade die Goldene Palme gewonnen hat: "Sollte Nuri Bilge Ceylan jedes Jahr einen Film machen, dann wird kein anderer Filmemacher aus dem östlichen Mittelmeerraum eine Einladung nach Cannes erhalten, das mache ich Regisseuren von dort immer wieder klar. Denn Cannes nimmt nur einen Film aus dem Nahen Osten", sagte Boyacioglu dem amerikanischen Branchenblatt Variety.

Berlin und Cannes tendierten zu regionalen Proporzen, indem sie ihre Wettbewerbe für ein oder zwei etablierte Filmemacher aus jeder relevanten Weltregion öffneten und jüngere Talente dabei übersähen, kritisiert Boyacioglu. "Karlovy Vary öffnet seine Türen hingegen für No-Name-Regisseure und Newcomer."

"East-of-the-West-Award" für russischen Film

Ganz besonders gilt das für die zweite wichtige Sektion des Karlsbader Festivals - die Reihe "East of the West", die für Filme aus Osteuropa (inklusive Türkei und Griechenland) reserviert ist und in die nur junge Regisseure mit ihren ersten oder zweiten Arbeiten eingeladen werden. Die Jury für den mit 20 000 Dollar (14 680 Euro) dotierten "East-of-the-West-Award", der Boyacioglu in diesem Jahr vorsaß, vergab den Preis an das Drama "Corrections Class" von Ivan Tverdovsky. Darin zeigt der Russe auf, wie eine behinderte Schülerin um Selbstachtung und Respekt kämpft - gegen die Mühlen der russischen Schulbürokratie. Es geht um den Kampf des Individuums gegen das System - ein Thema, das bei russischen Filmemachern gerade en vogue ist: Andrej Zvjagintsev stellte in Karlsbad "Leviathan" vor, seine bestürzende Abrechnung mit der russischen Staatskorruption, für die er in Cannes im Mai den Drehbuch-Preis bekam.

Ahmet Boyacioglu saß der Jury für den "East-of-the-West-Award" vor. (Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Überhaupt stellte das vielfach prämierte Kino Osteuropas in Cannes seine Qualität in diesem Jahr besonders eindrücklich unter Beweis: Neben der Goldenen Palme für Ceylans "Winter Sleep" gingen auch die Hauptpreise der angesehenen Nebenregionen "Un certain regard" und "International Critcs' Week" in die Region - an den Ungarn Kornél Mundruczó für "White God" und an den Ukrainer Miroslav Slaboshpitsky für "The Tribe".

Spät entdeckter Dauergast

Es ist daher kaum nachzuvollziehen, warum das große Interesse, auf das das westliche Kino beim osteuropäischen Publikum stößt, im Westen für osteuropäische Filme nicht erwidert wird. Der Ukrainer Sergei Loznitsa, der 2010 in Cannes mit seinem Hinterland-Schocker "Mein Glück" für Wirbel und Begeisterungsstürme sorgte, war in Karlsbad seit 2001 mit acht Filmen geradezu Dauergast. Bis der von Ahmet Boyacioglu kritisierte Bann für ihn aufgehoben wurde, musste er neun Jahre lang warten.

Wer weiß, ob es Loznitsa jemals nach Cannes geschafft hätte, wenn die Karlsbader Festivalmacher nicht so stur an ihrem Bekenntnis zum osteuropäischen Kino festhalten würden. Es könnte vielleicht also gar nicht schaden, sich Filmemacher mit Cannes-Format in Karlsbad selbst einmal anzusehen, lange bevor auch die Film-Scouts von der Croisette die Fährte aufnehmen. Die nächste Gelegenheit dazu besteht Anfang Juli 2015 - da feiert das Festival in Karlovy Vary seine 50. Austragung und wird sich bestimmt nicht lumpen lassen.

Der Besuch des Karlsbader Festivals wurde teilweise vom Veranstalter unterstützt.

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