Süddeutsche Zeitung

44. Internationales Filmfestival Karlovy Vary:Letzte Ausfahrt: Irrsinn

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Zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zieht das Filmfestival in Karlsbad Bilanz: Die Freiheit brachte Osteuropa auch Korruption und Beschleunigung. Da hilft nur noch der Wahnsinn.

Von Paul Katzenberger

Eine souveräne Haltung erfordert bisweilen Verzicht. Als opferbereit in diesem Sinne erwiesen sich die Macher des diesjährigen Internationalen Filmfestivals in Karlsbad, indem sie sich dazu durchrangen, keinen einzigen einheimischen Film für den Wettbewerb der 44. Ausgabe des Festivals in dem böhmischen Kurort zuzulassen.

Diese Emanzipation von nationalen Interessen ist bemerkenswert. Geraten Filmfestivals doch häufig auch zur Demonstration des heimischen Filmschaffens - bisweilen auch ganz unabhängig von dessen Qualität. So ist etwa das weltweit bedeutendste Filmfestival in Cannes ohne französische Wettbewerbsbeiträge auch in schwächeren Jahren des französischen Films nahezu undenkbar.

Dabei kann von einer mangelnden Qualität des aktuellen tschechischen Kinos gar keine Rede sein - im Gegenteil: Mit dem Dreiecksdrama "Wächter Nr. 47 - Hlídac C. 47" von Filip Renc und dem Antikriegsfilm "Tobruk" von Vaclav Marhoul kamen zuletzt anspruchsvolle Filme heraus, die den Vergleich im Karlsbader Wettbewerb nicht hätten scheuen müssen.

Schwacher Siegerfilm

Doch das Timing passte eben nicht hundertprozentig: "Beide Filme waren etwas zu früh fertig und hätten inakzeptabel lange unter Verschluss gehalten werden müssen", begründete Programmdirektorin Julietta Sichel die Nichtberücksichtigung der zwei Filme, die inzwischen beide mit jeweils drei "Tschechischen Löwen" geehrt wurden, bereits internationale Premieren feierten und sich daher für den Karlsbader Wettbewerb disqualifizierten.

Das war schade, denn sie hätten dem insgesamt schwachen Wettbewerb dieses Jahres gut getan. Wieder einmal erwies sich, dass Karlsbad wie auch andere kleinere A-Festivals Mühe hat, einen starken Wettbewerb auf die Beine zu stellen - zu sehr drängen die namhaftesten Filmemacher auf die Großfestivals in Cannes, Berlin und Venedig.

Ärgerlich, dass die Jury unter der französischen Produzentin Claudie Ossard den Hauptpreis des Festivals auch noch an einen der schwächsten Filme vergab: Das Spielfilmdebut "Engel am Meer - Un Ange à la mer" des Belgiers Frédéric Dumont thematisiert zwar eine wichtige Abart des Kindesmissbrauchs, nämlich den Schaden, den ein Zwölfjähriger in der beklemmenden Beziehung zu seinem depressiven und selbstmordgefährdeten Vater nimmt.

Regie-Preis für Andreas Dresen

Doch ausgerechnet die Problematik "Kindesmissbrauch", die in diesem Wettbewerb auffallend häufig präsent war, wurde von anderen besser verarbeitet: In dem russischen Beitrag "Wölflein - Volcok" etwa präsentiert Wassilij Sigarev das Thema komplexer und schonungsloser, indem er die Beziehung eines Mädchens zu seiner alkoholkranken und gewalttätigen Mutter zum Horrortrip werden lässt.

Gerechtfertigter als die Vergabe des Kristallglobus an Frédéric Dumont war die Ehrung von Andreas Dresen mit dem Preis für die beste Regie. Der Potsdamer, der für die dramatische Romanze "Wolke 9" im vergangenen Jahr mit Auszeichungen überhäuft wurde, präsentierte in Karlsbad nun eine "melancholische Komödie".

"Whisky mit Wodka" überzeugte durchaus mit intelligentem Witz, doch im Wettbewerb der vergangenen Jahren waren schon bessere Tragikomödien zu sehen. An die Hintergründigkeit, die etwa der Tscheche Jan Hrebejk in seinen besseren Stücken erreicht, kam Dresen nicht heran.

Die Stärken Karlsbads liegen allerdings jenseits des Wettbewerbs - das Festival spielte vor allem in den Nebenreihen wieder seine speziellen Qualitäten aus. Die lagen zunächst in einer beeindruckenden Parade der jüngsten Highlights dieser Festivalsaison.

Nähe zum osteuropäischen Kino

Die frischgebackenen Cannes-Laureaten Michael Haneke ("Das weiße Band") und Charlotte Gainsbourg (" Antichrist") waren ebenso vertreten wie die Siegerfilme der Berlinale (" Milch des Leids - La Teta Asustada"), der Mostra di Venezia (" The Wrestler") und des Sundance-Festivals ("Das Dienstmädchen - La Nana").

Karlsbad steht außerdem für seine große Nähe zum vitalen osteuropäischen Kino. Die Nebenreihe "East of the West" gilt inzwischen als wichtigstes Schaufenster für die Produktionen dieser Region. Die Kinematografie Osteuropas tritt im kommerziellen Bereich zwar kaum in Erscheinung, bei Festivals räumt sie aber immer wieder die großen Preise ab.

Inzwischen ist das auch in Deutschland durchgesickert, weswegen in auffällig vielen Filmen aus Ländern wie Polen, Lithauen oder Ex-Jugoslawien mittlerweile deutsches Geld steckt. Ganz gezielt auf diese Karte setzt beispielsweise die Mitteldeutsche Medienförderung (MDM), die dem Karlsbader Wettbewerbsfilm "Schweinchen - Swinki" aus Polen finanziell unter die Arme griff. "Gerade in Ländern, von denen man es zunächst nicht unbedingt annehmen würde, gibt es inzwischen ein großes Potenzial", begründet Oliver Rittweger von der MDM die Strategie der Leipziger Fördergesellschaft.

So sei das Arthouse-Kino in Bulgarien, Rumänien und in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens inzwischen stark vertreten. "Wenn wir da spätere Preisträger finanziell unterstützt haben, stärkt uns das als noch junger Medienstandort sehr", so Rittweger.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum das Leben an der heutigen Westgrenze Osteuropas ausweglos zu sein scheint.

Einen Preisträger vom Balkan gab es auch wieder in Karlsbad, da der Fipresci-Preis der internationalen Filmkritiker an "Ohne Ende - Nije Kraj" des kroatischen Regisseurs Vinko Bresan ging. Die skurrile Tragikomödie verdichtet das ganze Drama des Jugoslawienkrieges in der Figur des kroatischen Kriegsveteranen Martin, der sich auf ein Liebesabenteuer mit Desa einlässt. Um sie zu erobern, landet der frühere Scharfschütze schließlich in Belgrad bei einem Pornoproduzenten. Nur allzu offensichtlich setzt sich Bresan vom Gut-und-Böse-Denken ab, das in den Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens noch immer vorherrscht. Martin darf sich bei ihm vom Mörder zum Versöhner läutern.

Dass die Persönlichkeitsentwicklung aber auch genau anders herum verlaufen kann, zeigt der Ungar Aron Matyassy in seinem bildgewaltigen Drama "Verlorene Zeiten - Utolso Idök". Der rechtschaffene Automechaniker Ivan mutiert darin zum Doppelmörder, weil er an den Umständen des Lebens an der ungarisch-ukrainischen Grenze zerbricht. Das Dasein vor allem im Osten Ungarns habe sich gegenüber den Zeiten der sozialistischen Diktatur nicht verbessert, erläuterte Matyassy in Karlsbad: "Es gibt jetzt weniger Hoffnung."

In Ritualen und Gleichgültigkeit erstarrt

Ausweglos scheint auch das Leben an der heutigen Westgrenze Osteuropas zu sein. Denn im polnischen Wettbewerbsfilm "Schweinchen - Swinki" gerät der behütete Teenager Tomek unentrinnbar in den Strudel von Gewalt und Perversion, der durch das Wohlstandsgefälle in einem kleinen polnischen Grenzort zu Deutschland entfacht wird.

"Schweinchen" - so werden im polnischen Grenzgebiet jene minderjährigen Jungen und Mädchen genannt, die sich an westliche Sextouristen prostituieren. Weil Tomek den immer größeren Konsumdrang seiner gleichaltrigen Freundin Marta befriedigen will, braucht er mehr Geld als ihm die Umstände in dem verarmten Ort gewähren Schließlich sieht er den einzigen Ausweg im Verkauf seines Körpers an Sextouristen von jenseits der Grenze. Am Ende machen die Umstände auch ihn zum Totschläger.

Die Gleichgewichtsverluste im Zuge westlicher Beschleunigungen waren auch das Thema in dem litauischen Roadmovie "Abblendlichter - Artimos Swiesos". Der dreißigjährige Versicherungsangestellte Tadas scheint eigentlich alles zu haben: eine hübsche Frau, einen stattlichen BMW und eine schicke Wohnung. Doch sein Leben ist in Ritualen und Gleichgültigkeit erstarrt.

Da trifft Tadas zufällig seinen früheren Klassenkameraden Linas, der ihn zu einer ziellosen Nachtfahrt überredet. Der Abend verläuft immer chaotischer und endet fast in einer Katastrophe, doch am Ende hat Tadas wieder Kontakt zu seinen Gefühlen für sich und seine Frau aufgenommen. Die Aussage seines Filmes beschrieb der junge Regisseur Ignas Miskinis in Karlsbad mit der reinigenden Kraft des Irrwitzes: "Du brauchst ein Stück Wahnsinn, um den Zwängen der modernen Welt zu entkommen."

Ernüchternde Bilanz

Den Zusammenbruch des Sozialismus in Europa vor genau zwanzig Jahren würdigte das Festival mit der Retrospektive "Zwanzig Jahre Freiheit - Dvacet Let Svobody", in der Bravourstücke dieser Periode wie etwa Istvan Szabos "Süße Emma, liebe Böbe" oder Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen" gezeigt wurden.

Es war wohl kein Zufall, dass auch in vielen der osteuropäischen Filme nach zwanzig Jahren Freiheit Bilanz gezogen wurde. Die ernüchternd ausfiel: Etliche Filmemacher der Region registrieren, dass ihre Gesellschaften in Materialismus und Korruption unterzugehen drohen, bevor sich neue Werte etablieren konnten. Die Folge: Übertreibungen in allen Lebenslagen. "Unser Kapitalismus ist ja noch viel schneller als Eurer", sagt der Litauer Miskinis.

Osteuropa ist zwar erkennbar näher an Westeuropa gerückt, doch die Melange aus altem und neuem System hat sich noch längst nicht homogenisiert. Für Filmemacher ist das ein Vorteil: Ein schwierigeres Leben bietet die spannenderen Stoffe.

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