43. Filmfestival Karlovy Vary:Zerrüttete Gesellschaften

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Das 43. Filmfestival in Karlsbad spiegelt den Wandel im Osten. Die Zerrüttung menschlicher Beziehungen durch die moderne Wettbewerbsgesellschaft scheint dort nun angekommen zu sein.

Paul Katzenberger

In seinem Land ist Petr Zelenka ein Großer - als Dramaturg wird der tschechische Regisseur mitunter sogar mit dem langjährigen Dichterpräsidenten Václav Havel verglichen. Ein Platz beim Festival im böhmischen Karlsbad ist ihm also sicher - und sein neuer Film "Karamazovi - Die Brüder Karamasow", eine kluge und bildgewaltige Adaption des Dostojewski-Klassikers, galt beim internationalen Publikum schnell als Favorit für den Gewinn des Hauptpreises, des mit 30.000 Dollar dotierten "Kristallglobus".

Matja Solce in Petr Zelenkas "Die Brüder Karamasow" - einer klugen und bildgewaltigen Adpation des Dostojewski-Klassikers. (Foto: Foto: Cinemart)

Dennoch trauerte Zelenka bei der Vorstellung des Films sehr unverblümt seiner verpassten Nominierung in Cannes hinterher, und prompt musste er sich am Ende auch mit dem Fipresci-Preis der Internationalen Kritiker begnügen.

Lieber in Berlin, Cannes oder Venedig

Damit offenbart sich das Hauptdilemma, mit dem die Festivalmacher in Karlsbad zu kämpfen haben: Selbst die inländischen Filmemacher versuchen ihre Produktionen zunächst in Berlin, Cannes oder Venedig zu platzieren, Karlsbad hat wie alle kleineren A-Festivals große Mühe, einen starken Wettbewerb zusammenzubringen.

Auch der diesjährige Siegerfilm "Furchtbar glücklich - Frygtelig Lykkelig" des dänischen Regisseurs Henrik Ruben Genz war weitgehend unauffällig - er dürfte wie alle Karlsbad-Gewinner international wohl in der Versenkung verschwinden. Die einzige Ausnahme war Jean-Pierre Jeunet, der im Jahr 2001 mit "Die fabelhafte Welt der Amelie" (hier zum Trailer) triumphierte.

Beachtung verdient Karlsbad aber dennoch - das Festival spielte vor allem in den Nebenreihen seine speziellen Stärken aus. Die liegen in einem klug ausgesuchten Konzentrat der besten Filme dieser Festival-Saison, einem guten Riecher der künstlerischen Leiterin Eva Zaoralová für kommende Trends - und der großen Nähe zum vitalen osteuropäische Kino, das hierzulande nur allzu oft ausgeblendet wird.

So robust wie nirgends sonst in Europa

In "Medvídek - Teddy-Bär" etwa nähert sich Regisseur Jan Hrebejk auf seine unnachahmlich bitter-süße Art den Problemen der Generation der Vierzigjährigen in Bezug auf Liebe, Verantwortung, Treue an.

Dank Hrebejk und anderer populärer Filmemacher ist das tschechische Kino so robust ist wie nirgends sonst in Europa: Im ersten Halbjahr 2008 kamen tschechische Filme im eigenen Land auf einen Marktanteil von fünfzig Prozent - was sogar die traditionell starke Heimatverbundenheit der Franzosen noch deutlich übertrifft.

Die tschechische Leichtigkeit im Umgang mit ernsten Themen demonstrierten in Karlsbad auch Jiri Vejdelek in "Roming". Das skurrile Road-Movie war ein guter Maßstab zur Auslotung der verschiedenen Strömungen, die sich mittlerweile im osteuropäischen Kino herausbilden. Denn wie auch Vejdelek behandelte Gábor Dettre im ungarischen Beitrag "Táblo - Tableau" die Vorurteile, denen Sinti und Roma in den postsozialistischen Gesellschaften ausgesetzt sind.

Vejdeleks furchtbar komischen Protagonisten Stano (gespielt von Bolek Polívka) muss der Zuschauer unweigerlich gern haben, obwohl er keines der typischen Vorurteile gegen stehlende und arbeitsscheue Roma auslässt.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, welche Akzente der russische Film in Karlsbad setzte.

Dettres Hauptakteur - der Roma und Polizist György Karcsi, grandios gespielt von Zoltán Musci, in dem sich physiognomisch Walter Matthau und Klaus Kinski vereinen - wirkt hingegen sehr viel widersprüchlicher. In einer völlig verwahrlosten und verrotteten Gesellschaft sucht der Kriminalbeamte einerseits zwar unerbittlich nach der Wahrheit, andererseits ist aber auch er der Lüge verfallen.

Agnija Kuznetsowa in Alexej Balabanows "Grus 200 - Fracht 200." (Foto: Foto: CTB Film Company)

Der so optimistischen Selbstironie der tschechischen Filme setzt der Ungar Dettre also maximale Schwermut entgegen, die in ihrer unbedingten Wahrheitsliebe aber auch sehr überzeugend wirkt.

Weniger propagandistisch als erwartet

Ebenfalls düster und weniger propagandistisch als erwartet zeigten sich in Karlsbad die russischen Beiträge: Alexej Balabanows verstörender, aber auch irgendwie grandioser Orwell-Verschnitt "Grus 200 - Fracht 200" über die untergehende Sowjetunion als eine einzige Kloake, oder der Wettbewerbsfilm "Plenni - Der Gefangene".

Regisseur Alexej Uchitel erzählt darin die Geschichte des Soldaten Rubachin (Wjatscheslaw Grekunow), der inmitten des von beiden Seiten grausam geführten TschetschenienKriegs an einem Rest Menschlichkeit festhält. Auch er scheitert schließlich an den Umständen und wird selbst zum Täter.

In seiner schlichten Dramaturgie ist "Plenni" ein Aufschrei über die Sinnlosigkeit des Krieges, der bewusst auf die Aufarbeitung der tieferen Ursachen verzichtet. Uchitel wurde dafür in Karlsbad zu Recht mit dem Preis für die beste Regieleistung gewürdigt.

Dramen der neuen Mittelschicht

Zwischen Unbeschwertheit und Depression lag schließlich "Tulpan", der den Zuschauer in die fremde Welt des kasachischen Nomadenlebens entführt. In die fast schon dokumentarisch anmutenden Bilder des rauen Daseins der Schafhirten in der Wüste hat der russisch-kasachische Regisseur Sergej Dwortsewoj behutsam die Geschichte des jungen Asa (Aschkat Kunchinerikow) eingearbeitet. Der will immer wieder die schöne Tulpan erobern, obwohl diese ihn wegen eines schnöden Grundes abweist: Seine Segelohren nehmen ihm jede Chance. Bei aller Exotik berührt der Film auch westliche Zuschauer. So fremd Asa als Person außerdem sein mag, so vertraut sind seine Gefühle.

Am Ende verfestigte sich in Karlsbad der Eindruck, dass die in den Filmen der verschiedenen Länder häufig ähnlich dargestellten Befindlichkeiten nicht auf Zufall beruhen, sondern sich aus einer gemeinsamen Realität der Gesellschaften speisen.

Erörterte das osteuropäische Kino früher die Verfassung der postsozialistischen Lebens häufig aus der Perspektive der sozialen Verlierer, so gerät nun zumindest in einigen Ländern die sich neu etablierende Mittelschicht stärker in den Blick. Viele tschechische, kroatische und rumänische Themen unterschieden sich nur noch unwesentlich von solchen aus Spanien oder Frankreich. Die Zerrüttung menschlicher Beziehungen durch die moderne Wettbewerbsgesellschaft, sie scheint nun auch in den Reformgesellschaften Osteuropas angekommen zu sein.

© SZ vom 17.07.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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