Süddeutsche Zeitung

41. Internationales Filmfestival Karlovy Vary:Die Sonne geht im Osten auf

Das A-Filmfestival in Karlsbad erwies sich in diesem Jahr mal wieder als globale Wundertüte, die erfreuliche Überraschungen enthielt.

Von Paul Katzenberger

Wer das Gute finden wollte, der brauchte dann doch ein wenig Ausdauer und Geduld. Denn unter den 15 Wettbewerbsbeiträgen des 41. Filmfestes in Karlsbad lagen Licht und Schatten dicht beieinander - womit sich das zweitälteste A-Festival der Welt aber eigentlich selbst treu blieb. Denn zu den Leitlinien der Festivalmacher in der westböhmischen Kurstadt gehört, dass ein Land maximal einmal im Wettbewerb vertreten sein darf. Ärgerliche und künstlerisch fragwürdige Länderdominanzen, wie sie etwa beim Filmfestival in Cannes häufig gegeben sind, werden so einerseits ausgeschlossen. Andererseits müssen die Zuschauer in Karlsbad bei der programmiert hohen Anzahl von Beiträgen aus hierzulande weniger bekannten Filmländern eine größere Offenheit für Neues und Unbekanntes mitbringen.

Hoher Anspruch

Der Anspruch ist daher gewaltig und kann angesichts der europäischen Festival-Konkurrenz auch nicht in jedem einzelnen Fall erfüllt werden. Mit seinem Termin im Juli - eingeklemmt zwischen Cannes (Mai) und Venedig (September) - fällt es dem Karlsbader Festival schwer, das ganze Premierenprogramm mit absoluten Top-Filmen auszustatten.

Dementsprechend erwiesen sich in diesem Jahr die Wettbewerbsbeiträge aus Korea ("Love Talk"), Bulgarien ("Ein Weihnachtsbaum steht Kopf") oder Mexiko ("Mezcal") als allenfalls schwer verdaulich für internationale Zuschauer. Umso schöner ist es allerdings, wenn der interkulturelle Transfer gelingt, und auch das ist in Karlsbad regelmäßig der Fall: Der künstlerischen Leiterin Eva Zaoralova wird in der Branche attestiert, ein gutes Auge für kommende Trends zu haben und immer für einen Geheimtipp gut zu sein.

Belohnung

Zudem gilt: Etliche der internationalen Karlsbader Raritäten bekommt der deutsche Zuschauer in der Regel nur schwer zu sehen. Überzeugen konnten etwa der finnische Streifen "Valkoinen Kaupunki" ("Gefrorene Stadt"), die tschechische Tragikomödie Kráska v nesnázích ("Eine Schönheit in Not") oder der deutsche Beitrag "Winterreise".

Der Auftritt mit "Winterreise" in Karlsbad war für Grimme-Preisträger Hans Steinbichler eine Weltpremiere. Sichtlich beeindruckt von der Kulisse des großen Karlsbader Festivalsaals mit seinen 1200 Zuschauern betonte der gebürtige Schweizer, wie froh er über die Nominierung in Karlsbad sei: "Der Osten Europas ist meine geistige Heimat. Deswegen bin ich froh, dass mein Film hier und nicht in Cannes oder Venedig gezeigt wird."

Sehr fremd schien der Osten hingegen Hauptdarsteller Josef Bierbichler zu sein. Die tschechischen Simultanübersetzer hatten ihn offenbar irritiert. Bei seiner Ansprache raunzte er schließlich nur: "Je ne parle pas francais" ins Mikrophon.

Knurrig

Ähnlich knurrig tritt der Bayer dann auch in "Winterreise" auf - seiner zweiten Produktion mit Steinbichler nach dem Erfolgsstreifen "Hierankl". Er mimt dabei den mittelständischen Unternehmer Franz Brenninger, dem am Ende eines eigentlich erfolgreichen Berufslebens die Insolvenz droht.

Zu allem Unglück scheint der finanzielle Druck, Brenningers Anfälligkeit für manisch-depressive Stimmungsschwankungen zu verstärken: Nächtelang dröhnt er sich mit lauter Musik zu, nur um schließlich tagelang wie ein Häuflein Elend im Bett zu liegen.

Als die finanzielle Lage immer aussichtsloser wird, vergisst er für einen Moment seine kaufmännische Vorsicht und wird so von kenianischen Betrügern um 50.000 Euro erleichtert. In seiner Not beschließt er, mit einer englischen Dolmetscherin (gespielt von Sibel Kekilli), nach Kenia zu reisen und das Geld zurück zu holen.

Beeindruckende Kameraeinstellungen

Steinbichlers Film wird das Filmfest München am 15. Juli eröffnen und in Deutschland im November in die Kinos kommen. Das Drama überzeugt durch beeindruckende Kameraeinstellungen und nutzt Franz Schuberts titelgebende Komposition "Winterreise" geschickt als Klammer für die Handlung, die jeweils etwa zur Hälfte im bayerischen Wasserburg und in Kenia angesiedelt ist.

Josef Bierbichler stellt den psychisch angeschlagenen Brenninger brilliant dar und auch Hanna Schygulla füllt die Rolle der liebenden und daher leidenden Ehefrau überzeugend aus. Schade ist allerdings, dass der Schluss des Filmes wenig glaubhaft wirkt.

Im Gegensatz dazu geht dem finnischen Film "Valkoinen Kaupunki" ("Weiße Stadt") die Glaubwürdigkeit in keinem Moment verloren: Obwohl Taxifahrer Veli-Matti (gespielt von Janne Virtanen) ein durch und durch anständiger Kerl ist, gerät er nach der Trennung von seiner Frau Hanna (Susanna Anteroinen) auf die schiefe Bahn.

Alles verloren

Nachdem er einen Nachbarn im Affekt erschlagen hat, landet er im Gefängnis und verliert schließlich auch seine Kinder und alles was für ihn wichtig ist. Er versucht sich umzubringen, das misslingt.

Regisseur Aku Louhimies vermag es in "Weiße Stadt" etwas eigentlich Unfassbares - den Todschlag eines Menschen - in seiner Entstehung nachvollziehbar zu machen. Die Filmhandlung macht denn auch plausibel, dass ein untadeliger Mensch selbst in den humanen westeuropäischen Gesellschaften tief fallen kann, wenn er im entscheidenden Moment kleine Fehler macht.

Schon zu Beginn des Filmes ahnt der Zuschauer die Katastrophe voraus, in die Veli-Matti da unentrinnbar schlittern wird, obwohl die bürgerliche Welt da noch geordnet ist. Louhimies stellt die unbequeme Frage, ob das moderne Familienrecht tatsächlich immer gerecht ist. Dass in diesem Film nachvollziehbar "Nein" gesagt wird, muss zum Nachdenken anregen.

Erfolgsduo

Um die Position von Mann und Frau in der modernen Familie ging es auch im tschechischen Wettbewerbsbeitrag "Kráska v nesnázích" ("Beauty in trouble"). In Deutschland quasi unbekannt, gilt das Duo aus Regisseur Jan Hřebejk und Drehbuchautor Petr Jarchovský in seiner Heimat als Erfolgsgarant.

Filme wie "Pupendo", und "Horem Padem" ("Auf und ab") erwiesen sich im Nachbarland als Kassenschlager und Hřebejks Holocaust-Tragikomödie "Musime si pomahat" ("Wir müssen zusammenhalten") wurde 2001 sogar für den Oscar nominiert. Entsprechend groß war unter den Experten die Neugier auf "Beauty in trouble".

Darin spielt Aňa Geislerová die junge Mutter Marcela, die sich zwischen zwei Männern entscheiden muss: Ihrem nichtsnützigen, aber sexuell anziehenden Ehemann, oder einem seriösen älteren Italo-Tschechen, der ihr finanzielle Sicherheit und ein geradezu unwirklich angenehmes Leben in der Toskana bieten kann.

Hřebejk/Jarchovský verarbeiten diesen Stoff auf ihre bewährte Art zu einer bitter-süßen Komödie. Was da so oft zum Lachen reizt, sind tatsächlich die ganz großen relevanten Existenzfragen. In ihrem Film gehe es um "Sex, Geld und einen guten Menschen", Regisseur und Drehbuchautor ihr Anliegen lakonisch.

Das ambivalente Wesen

Die große Stärke der beiden Filmmacher - den Menschen als überaus ambivalentes Wesen zu zeichnen - gelingt auch im neuesten Werk. Wie etwa die hintergründigen und tief-sympathischen Seiten von Marcelas eigentlich unausstehlichen Vater Richard (Jiri Schmitzer) herausgearbeitet werden - das ist großes Kino.

Unter den Beobachtern galt "Beauty in trouble" daher auch als Favorit für den Hauptpreis des Festivals - den mit 20.000 Dollar dotierten Kristallglobus. Ganz konnte die Jury dieser Einschätzung nicht folgen - sie vergab an den Film lediglich den "Spezialpreis der Jury".

Den Kristallglobus sicherte sich hingegen überraschend der amerikanische Independent-Beitrag "Sherrybaby" von Laurie Collyer (Regie und Drehbuch).

In dem Film geht es um die junge Mutter Sherry (Maggie Gyllenhaal), die nach dem Verbüßen einer dreijährigen Haftstrafe feststellt, dass sich die Rückkehr in die normale Welt viel schwieriger gestaltet als erwartet.

Bei der Aufarbeitung der Thematik kam Collyer die langjährige Erfahrung als Dokumentarfilmerin zu Gute. Der Film beschreibt eindrücklich die Mechanismen der Resozialisierung entlassener Häftlinge und die Probleme, die ganz allgemein dabei entstehen, wenn junge Menschen einen Neuanfang starten, nachdem sie zuvor in ihrem Leben einmal gravierende Fehler gemacht haben.

Wichtige Nebenreihe

Neben dem Wettbewerb interessiert die Beobachter in Karlsbad zunehmend auch die Nebenreihe "East of the West". Sie hat sich als weltweit wichtigste Plattform für osteuropäische Filmproduktionen etabliert, was sich im vergangenen Jahr durch die Auslobung eines neuen Wettbewerbs manifestierte.

Preisträgerin des mit 250.000 tschechischen Kronen (etwa 8350 Euro) dotierten East-of-the-West-Awards wurde in diesem Jahr die Bulgarin Milena Andonova, die in Karlsbad mit "Maimuni prez Zimata" ("Affen im Winter") vertreten war.

In ihrem Film über die drei Frauen Dona, Lukrecie und Tana vermittelt Andonova überzeugende Einsichten in die Tragik, die den Beziehungen zwischen Männer und Frauen inne wohnen kann, wenn ein entweder ein übermächtiger Kinderwunsch erfüllt werden soll, oder aber ganz im Gegenteil ein ungewolltes Kind im Weg ist.

Nicht für schwache Nerven geeignet erwies sich der russische "East-of-the-West"-Beitrag "Totschka" (Die Stelle). Denn mit allen Mitteln versucht Regisseur Jurij Moroz jene Wahrnehmung der Realität zu vermeiden, von der das russische Kino in vielen Fällen noch immer befallen ist. Im sowjetischen Realismus ging es nämlich eher darum, die Welt so darzustellen, wie sie sein sollte, weniger darum, wie sie ist.

Trotz der inzwischen herrschenden künstlerischen Freiheiten macht sich diese Tradition noch immer bemerkbar: In "Notschnoj Dosor" und "Schest" leben Durchschnittsbürger in riesigen Wohnungen, während in "Pobeg" der Mercedes das geläufige Fortbewegungsmittel zu sein scheint.

In "Totschka" stellt Jurij Moroz hingegen das Leben dreier Moskauer Straßenprostituierter (gespielt von Darja Moroz, Viktorija Isakova und Anna Ukolova) so ungeschönt wie möglich dar und das stellt den Zuschauer auf eine harte Probe.

Das triste Dasein der drei Frauen bekommt allein durch den Drehort große Authenzität. Denn mit dem Staropimenovskij Pereulok wählte Moroz einen echten Moskauer Straßenstrich zum Schauplatz, der während der Dreharbeiten vorübergehend geräumt wurde.

Kompromisslos

Moroz führt die verzweifelte Lage drei Frauen kompromisslos vor Augen: In einem Milieu von Zuhältern, korrupten Polizisten, Perversen und Killern verlieren die Frauen jeden Anflug von Humanität.

Die drei Hauptdarstellerinnen - unter ihnen die Tochter und Ehefrau des Regisseurs - füllen die Rolle glaubhaft aus. Bei einigen Szenen geht der angestrebte Realismus allerdings zu weit - so viel Brutalität auf einmal hält auch das illusionsloseste Strichmädchen Moskaus nicht aus.

Gern angenommen wird vom Publikum in Karlsbad regelmäßig auch die Nebenreihe "Horizonte". In ihr bietet das Festival Produktionen an, die bei anderen Festivals bereits Aufsehen erregten.

Guter Überblick

Die vielen Hobby-Cineasten, die sich traditionell vom legeren Charakter der Karlsbader Filmschau anziehen lassen, können sich so einen guten Überblick über das bisherige Filmjahr verschaffen: Unter den bereits preisgekrönten Filmen, die in Karlsbad wiederholt wurden, befanden sich unter anderem: "Grbavica" (Goldener Bär, Berlinale 2006), "Flandres" (Großer Preis der Jury, Cannes 2006), "Der freie Wille" (Silberner Bär, Berlinale 2006), "Knallhart" (FIPRESCI-Preis, Berlinale 2006) und "Road to Guantanamo" (Silberner Bär, Berlinale 2006).

Der deutsche Horizonte-Beitrag "Requiem", der auf der diesjährigen Berlinale mit dem FIPRESCI-Preis gewürdigt wurde, beruht auf wahren Begebenheiten, was den dargestellten Exorzismus-Fall in den 70-er Jahren umso erschreckender erscheinen lässt.

Hauptdarstellerin Sandra Hüller, die bereits in Berlin mit dem Silbernen Bären für ihre beeindruckende Leistung geehrt worden war, erntete in Karlsbad abermals den gerechtfertigten Applaus.

Weltstar

Der Promi-Faktor war in Karlsbad in diesem Jahr deutlich niedriger dosiert als bei der 40. Jubiläumsauflage im Vorjahr: Mit Andy Garcia, der für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, tauchte zwar erneut Weltstar des internationalen Filmgeschehens in Karlsbad auf. Doch mit dem Glamour, den Sharon Stone und Robert Redford im vergangenen Jahr verbreiteten, konnte der kubanisch-amerikanische Schauspieler nicht mithalten.

Dennoch kam der Boulevard auf seine Kosten - wie sich am Bohei ablesen ließ, das um das tschechische Top-Modell Petra Nemcova gemacht wurde.

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