30. Münchner Filmfest:Wenn einem das Leben um die Ohren fliegt

Zwischen mütterlicher Tyrannei und Freundschaft am Meer: Die neuen deutschen Filme und Fernsehfilme zeigen, wie wichtig Herkunft ist. Auch bei Filmfestivals.

Rainer Gansera

In ihrem Vorwort im Programmheft schreibt die neue Filmfest-Chefin Diana Iljine den offenkundig inkorrekten, wohl einer Bequemlichkeit des Rubrizierens entsprungenen Satz: "Wo ein Film herkommt, ist nicht so wichtig." Natürlich ist bei einem guten Film gerade so wie bei einem guten Wein die Herkunft wichtig. Man muss den Ort spüren, die Art der Sonneneinstrahlung, woher der Wind weht. Für Filmfeste sollte das gleichermaßen gelten. Oder wäre die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass das Münchner Filmfest demnächst in Berlin, wo eh schon ein Großteil der Programmierung bewerkstelligt wird, stattfinden könnte? Im Gegenzug bekämen die Münchner dann die Berlinale? Auch nicht schlecht!

30. Münchner Filmfest: Tim Schilling, ein Tag- und Nachtträumer in Berlin, in Jan-Ole Gersters Film "Oh boy".

Tim Schilling, ein Tag- und Nachtträumer in Berlin, in Jan-Ole Gersters Film "Oh boy".

Bei zwei der schönsten Filme aus der Reihe "Neues Deutsches Kino" ist der Ort des Geschehens, Berlin, entscheidend wichtig. Die Stadt dient nicht nur als Kulisse, sondern spielt magisch mit. Berlin mit seiner Mischung aus Middleclass und Boheme, aus Flapsigkeit und Verzweiflung. Zwei Filme, in denen Dreißigjährigen das Leben gerade so um die Ohren fliegt. Prägnant komponierte Schwarz-Weiß-Bilder entfalten in Jan-Ole Gersters "Oh boy" (Mittwoch 22.30 Arri, Freitag 17 Uhr HFF) die Geschichte eines Tages und einer Nacht, in der Niko (großartig: Tom Schilling) durch die Spree-Metropole driftet. Mit seinem Schauspieler-Freund besucht er einen Filmset (gedreht wird ein Nazizeit-Drama) und eine Theateraufführung (die aussieht wie Urschreitherapie), es gibt kuriose Begegnungen mit übergriffigen Psychiatern, stressigen U-Bahnkontrolleuren und prügelnden Rowdys, und anfänglich denkt man, hier entrolle sich ein Berlin-satirisches Comedy-Nummernprogramm. Dann aber gewinnen Traumcharakter und Poesie Vorrang. Wenn der Morgen graut, offenbart eine tolle Stadtbilder-Montage Nikos prekäres Lebensgefühl: Niko, der Passant in urbanen Transiträumen, an dem das Leben wie eine albtraumhafte Bildergalerie vorüberzieht.

Der darstellerisch intensivste und erzählerisch wagemutigste Film der Reihe, Hanna Dooses "Staub auf unseren Herzen" (Dienstag 14 Uhr Cinemaxx4, Mittwoch 17 Uhr HFF), setzt ein Mutter-Tochter-Drama in Szene, das man sich mit seinem rebellischen Elan so nur in Berlin vorstellen kann. Kein seltenes Thema: die dominante, tyrannische Mutter (in der Reihe mit neuen Fernsehfilmen malt es Edward Bergers "Mutter muss weg" als Groteske aus), aber noch nie wurde in einem jüngeren deutschen Film die mütterliche Tyrannei unter dem Ich-will-dir-nur-helfen-Vorwand derart subtil, packend und vergnüglich geschildert.

Jedes Mutter-Wort ein Dolchstoß, jedes Nur-zu-deinem-Besten eine Demütigung. Dogma-Stil, leichthändig aus improvisatorischem Reichtum schöpfend, eine Erlösung von dem bei uns vorherrschenden TV-Naturalismus. Mit der grandiosen Susanne Lothar als Dominanz-Mutter, der faszinierenden Stephanie Stremler als Tochter Kathi, die sich als Schauspielerin durch Castings und Flirts quält und ihr Credo "Ich kann mich nicht verstellen" trotzköpfig behauptet. Eine Abschlussarbeit der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (ohne Beteiligung von TV-Redaktionen oder Fördergremien), die wieder einmal den besonderen Rang der dffb-Absolventen bestätigt. Herkunft ist wichtig.

Im Bann des Ärzte-Komplexes

"Staub auf unseren Herzen" ist auch exemplarisch für zahlreiche Generation-30-Filme, in denen es von Scheidungskindern wimmelt, die zwischen Umzugskartons leben, die Wände frisch weißeln und mühsam nach ihrer Lebensspur suchen. Hier und da deutet sich die Sehnsucht an, dass das mit der Liebe, dem Zusammenleben und dem Versuch, ein eigenes "Zuhause" zu konstruieren, irgendwie doch, gegen all die Erfahrungen des elterlichen Scheiterns, möglich sein könnte. Zwei weitere dieser Generation-30-Filme - auch sie spielen hauptsächlich in Berlin - zeichnen treffliche Charaktere, rutschen aber in TV-Serien-Klischees und lassen die Stadt zur Kulisse gerinnen: Dietrich Brüggemanns "3 Zimmer/Küche/Bad" (Montag 20 Uhr Arri, Mittwoch 22 Uhr Cinemaxx2) und Constanze Knoches "Die Besucher" (Dienstag 17 Uhr Arri, Mittwoch 15 Uhr Cinemaxx3).

Gelegentlich ertappt man sich dabei, verblüfft von der Engführung im deutschen Fernsehen heute, in Lexika nachzulesen, welchen Reichtum an Motiven, Themen und Genres die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Im TV-Programm dagegen überall: Kommissare und Chefärzte, Sondereinsatzkommandos und das Krankenhausambiente. Eine Tendenz, die immer noch dominanter wird und sich auch in der traditionsgemäß mit Werken renommierter Regisseure bestückten Reihe "Neues deutsches Fernsehen" geltend macht. Selbst ein Filmemacher wie Stefan Krohmer, bekannt geworden als Chronist des Generationenkonflikts, gerät in den Bann des Ärzte/Ermittler-Komplexes, wenn er in "Riskante Patienten" einen biederen Heilpraktiker mit dem Milieu des Verbrechens konfrontiert. Matti Geschonneck, geübt in "Polizeiruf 110"-Krimis, schickt in seinem "Eine Frau verschwindet" (Montag 19.30 Uhr Cinemaxx2) einen Kommissar nach Amsterdam und stellt ihm eine an Alzheimer erkrankte Ehefrau zur Seite. So flippert die Story-Kugel hin und her zwischen Mordfallermittlung, Ehekrise, Krankheit.

Fernsehen in Krisenzeiten

Warum will das Fernsehpublikum nur noch Ärzte und Ermittler sehen? Weil das Fernsehprogramm in Krisenzeiten, so diagnostizieren Soziologen, Beruhigungspillen verabreichen soll. Ärzte/Ermittler versprechen Aufklärung und Therapie der Krankheit und des Verbrechens, das heißt des individuellen und des gesellschaftlichen Übels. Das Abgründige und Unheimliche der condition humaine wird derart eingehegt, rationalisiert und domestiziert.

Das große Vergnügen, das Toke Konstantin Hebbelns "Wir wollten aufs Meer" (Donnerstag 20 Uhr Gasteig, Freitag 17 Uhr Arri, Samstag 17 Uhr HFF) bereitet, hat auch damit zu tun, dass sich dieses bildkräftige Epos, trotz melodramatischer Ausuferungen, frei hält von Krimimustern oder Familienaufstellungen. Elementare Themen werden verhandelt, Freundschaft und Freundschaftsverrat, Freiheitssehnsucht. Die Geschichte setzt 1982 in Rostock ein, zeigt das gnadenlose Funktionieren des Stasiapparats, und schenkt drei brillanten Darstellern prächtige Rollen: August Diehl, Ronald Zehrfeld, Alexander Fehling.

Im Kontext der Fragen nach Herkunft und Zuhause muss noch ein Film erwähnt werden, der Bedenkenträger auf den Plan rufen könnte. Dito Tsintsadze erzählt in "Invasion" (Donnerstag 22.30 Uhr Cinemaxx1) von einem bösen Osteuropäer, der dreist und zynisch ("Die Deutschen haben sowieso keine Kultur") die Gastfreundschaft eines braven, einsam trauernden Deutschen ausnutzend, dessen luxuriöses Anwesen okkupiert. Schritt für Schritt. Gäste entpuppen sich als Invasoren. Dass der Regisseur aus Georgien stammt, lenkt den Blick freilich vom möglichen Vorwurf, fremdenfeindliche Ressentiments zu bedienen, ab und konzentriert ihn auf das bekannte Thriller-Muster, das Tsintsadze spannungsreich variiert. Herkunft ist wichtig.

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